Struktur im Stimmenwirrwarr
Freiburg, 28.03.2017
Was schreiben Zeitungen in der Türkei und im Libanon über den Krieg in Syrien? Wie stellen sie die Situation von Flüchtlingen oder die außenpolitischen Interessen der beteiligten Länder dar? Damit beschäftigten sich Freiburger Studierende der Islamwissenschaft in einem besonderen Seminar: Sie übersetzten Artikel aus dem Türkischen und Arabischen, analysierten die jeweiligen Medienlandschaften und erarbeiteten ausführliche Kommentare. Die Ergebnisse sind jetzt auf einer eigenen Website nachzulesen.
Kommentare zum Krieg: Gemeinsam mit Johanna Pink und Ruth Bartholomä haben die Studierenden Nachrichten zum Syrienkrieg oder zum Kurdenkonflikt übersetzt und analysiert. Foto: Jürgen Gocke
Gleich der erste Satz des Zeitungsartikels hat es in sich: Ohne russische Unterstützung erinnerten der Iran und seine Milizen in Syrien „an eine Reihe von gelben Kisten auf dem Weg zur Bestattung" – so übersetzte es Maren Bagdahn zunächst einmal wörtlich aus dem Arabischen. Aber was ist mit den „gelben Kisten" gemeint? Bagdahn entschied sich nach einigen Recherchen, in der Endfassung ihrer Übersetzung „eine Reihe von Särgen" zu schreiben – und in einer Fußnote zu erläutern, dass das sprachliche Bild im Originaltext von den gelben Hizbollah-Fahnen auf den Särgen der Kämpfer herrührt.
„Ziel war ja ein gut lesbarer deutscher Text", sagt Bagdahn, Masterstudentin der Islamwissenschaft an der Universität Freiburg. Der Artikel ist ein irankritischer Kommentar aus der libanesischen Zeitung „Al-Mustaqbal". Bagdahns Übersetzung ist nun auf einer Website nachzulesen – samt ausführlichem Kommentar: „Darin werden sprachliche Besonderheiten und Anspielungen eingeordnet und die Zusammenhänge des Themas erklärt", sagt sie.
Politische Relevanz
Die Seite ist das Ergebnis eines Seminars vom Sommersemester 2016. Es trug den Titel „Der Krieg in Syrien aus arabischer und türkischer Perspektive" und richtete sich an fortgeschrittene Bachelor- und Masterstudierende. „Wir versuchen immer, mit originalsprachigen Quellen zu arbeiten", sagt Johanna Pink, Professorin für Islamwissenschaft am Orientalischen Seminar der Universität. „In diesem Seminar wollten wir außerdem ein aktuelles Thema anbieten, das auch politische Relevanz hat."
Und, so überlegten es sich Pink und ihre Kollegin, die Juniorprofessorin Ruth Bartholomä: Die Ergebnisse sollten im Internet publiziert werden. Dafür bewarben sie sich erfolgreich beim Projektwettbewerb „Innovatives Studium" der Freiburger Studierendenvertretung (StuRa). Von den zusätzlichen Mitteln konnten sie den wissenschaftlichen Mitarbeiter Olmo Gölz finanzieren, der die Studierenden dabei unterstützte, ihre Arbeiten für die Website aufzubereiten. „Damit etwas daraus wird, das nicht nur ein oder zwei Dozentinnen lesen, sondern die Öffentlichkeit", sagt Pink. Auch muttersprachliche Kompetenz in Arabisch und Türkisch war vertreten: Eine Tutorin und ein Tutor begleiteten das Seminar.
Suchen, finden, auswählen
„Unsere Ausgangsfrage war: Wie wird in Ländern über den syrischen Krieg berichtet, die viel näher dran sind als wir und in denen sehr viele Flüchtlinge leben?", sagt Bartholomä. In den einführenden Sitzungen befassten sich die 17 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit der Medienlandschaft im Libanon und in der Türkei sowie mit den Grundzügen des Syrienkonflikts.
Anschließend gingen sie auf die Suche nach Zeitungsartikeln, die sie übersetzen und kommentieren wollten. „Wir haben bewusst die Studierenden auswählen lassen", sagt Pink. Die Recherche auf den Websites libanesischer oder türkischer Medien sei nicht gerade einfach gewesen, sagt Masterstudentin Nina Schad: „Nach arabischen Quellen zu suchen, fand ich schon herausfordernd." Sie entschied sich für einen Artikel aus der libanesischen Zeitung „An-Nahār" über die Rolle der Europäischen Union.
Die Themen reichen vom Umgang mit Flüchtlingen über den Kurdenkonflikt bis zum Giftgaseinsatz im syrischen Krieg. Auf der nun fertiggestellten Website sind die Originaltexte verlinkt; sie enthält zu jedem Artikel die Übersetzung, ein kurzes Abstract, den ausführlichen Kommentar, ein Fazit und Literaturangaben. Für die Schlussfassungen hat Gölz die Texte gemeinsam mit den Studierenden überarbeitet.
„Die ersten Versionen der Übersetzungen haben wir noch gemeinsam in den Seminarsitzungen besprochen", sagt Bartholomä, „und auch die Tutorate waren wichtig." Die Bachelorstudierenden hätten teilweise erst ein Jahr Sprachunterricht hinter sich, da sei es schon eine große Aufgabe, einen Text richtig und gut lesbar zu übersetzen. Die Kommentare entstanden in den Semesterferien.
Alles anwenden
„An einem langen türkischen Satz kann man auch mal eine halbe Stunde sitzen", bestätigt Kirsten Kreher. Die Bachelorstudentin hat einen Artikel zu Todesfällen unter syrischen Asylsuchenden aus der oppositionellen türkischen Zeitung „Evrensel" bearbeitet. Auch die Einordnung sei arbeitsintensiv, aber spannend gewesen: „Wir haben uns zum Beispiel mit der Pressefreiheit in der Türkei auseinandergesetzt", sagt sie. „Und wir haben uns gefragt, welche Quellen genannt werden – und wie wir feststellen können, ob diese seriös sind."
Ein solches Seminar sei sicher überdurchschnittlich aufwendig für Dozierende und Studierende, sagt Pink. Trotzdem würde sie bei Gelegenheit gerne in eine zweite Runde gehen. Es lohne sich, sagt Kreher: „Für mich war es das Seminar, bei dem ich alles, was ich bisher gelernt habe, anwenden konnte."
Thomas Goebel