Messe für die Massen
Freiburg, 28.05.2018
Zu Events wie Katholikentagen strömen die Menschen in Massen, zu den sonntäglichen Gottesdiensten tröpfeln sie eher spärlich ein. Sollte die Kirche sich etwas von der Popkultur abschauen, um selbst populärer zu werden? Jürgen Reuß hat bei Prof. Dr. Stephan Wahle nachgefragt. Der Theologe leitet die Arbeitsstelle Liturgie, Musik und Kultur an der Universität Freiburg und bietet im Sommersemester 2018 in Kooperation mit dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik eine Ringvorlesung zu Religion in populärer Kultur der Gegenwart an.
Lobpreisung mit Leidenschaft: Gottesdienst einer christlichen Gemeinde in den USA. Foto: Vince Fleming/Unsplash
Herr Wahle, wann hat die Kirche gemerkt, dass es so etwas wie Popkultur gibt und es sinnvoll sein könnte, sich mit ihr zu befassen?
Stephan Wahle: Anfang des 20. Jahrhunderts bewegte man sich weg von der Konzentration der Liturgie auf die Kleriker und hin zu mehr Teilhabe aller Gläubigen an der Messfeier. Der Durchbruch war das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965), wo als wichtiges pastorales Anliegen formuliert wurde, die kirchliche Hochkultur für Elemente von Volksfrömmigkeit und neueren Musikformen zu öffnen. Seitdem ist die Tür zu mehr Vielfalt einen Spalt geöffnet, und in der Kirchenmusik fand ein Paradigmenwechsel statt.
Wie kann man sich so eine Öffnung vorstellen?
Natürlich sollte das religiöse Leben nach wie vor von der kirchlichen Hochkultur der Eucharistiefeier geprägt sein, um die sich diverse Gottesdienstformen und populare Andachten wie ein Kreis herumlegen. Im Sinne der Öffnung kann auch die Eucharistiefeier Elemente der populären Kultur aufgreifen, etwa im Kirchenlied oder durch den Einsatz neuer Medien. Im Übrigen gab es bereits in den so genannten Stillmessen, also in den vom Priester gelesenen Messen ohne Chor, eine gewisse liturgische Freiheit. Hier durfte die Gemeinde – parallel zur Rezitation der Messtexte – beliebte deutsche Kirchenlieder singen. Für den gültigen Vollzug der Messe war der Gemeindegesang nicht entscheidend, aber wichtig für die Gläubigen und oft beliebter als das große Choralamt. Aus der Nachfrage und dem Bedürfnis, auch musikalisch mehr einbezogen zu werden, entwickelt sich langsam eine offizielle Anerkennung. Eine Entwicklung, gegen die sich die Kirche weder abdichten kann, noch will.
Mal andersherum gefragt: Warum sollte sich die Kirche überhaupt auf Popkultur einlassen?
Theologie darf sich nicht nur auf bestimmte Milieus konzentrieren, sich nicht als Wissenschaft verstehen, die sich nur einer Elite öffnet. Wenn wir ernst nehmen, dass die Frohe Botschaft etwas ist, das allen Menschen zugänglich sein soll, hat die Theologie auch die Verantwortung sich zu öffnen und zu schauen, was in der jetzigen Kultur vorgeht, warum sie sich musikalisch so zum Ausdruck bringt.
Plädoyer für Vielfalt: Die Theologie dürfe sich nicht als Wissenschaft verstehen, die sich nur einer Elite öffnet, betont Stephan Wahle. Foto: Thomas Kunz
Sind die Zeiten vorbei, in denen die Rolling Stones „Musik des Teufels“ waren?
Zugegeben, sich damit auseinanderzusetzen, warum Pop so attraktiv ist, war der katholischen Kirche lange suspekt. Die Bereitschaft, das zu ändern, ist noch jung. Und um als Theologe diese Phänomene analysieren zu können, muss man erst mal wieder sprachfähig werden. Das ist noch unbekanntes Terrain für uns, weshalb wir es in diesem Semester auch gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Kulturwissenschaft vertiefen möchten.
Bistümer richten Pop-Kantoreien ein, es gibt einen Bachelorstudiengang „Evangelische Kirchenmusik Popular“ – ist das der Weg der Zukunft?
Kantoren, die neben der klassischen auch populäre Musik machen, gibt es auch in der Erzdiözese Freiburg. Für die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit brauchen wir Personen, die über die traditionelle Chorarbeit hinaus geschult sind. Man sollte aber nicht so naiv sein und Popsongs anstelle biblischer und liturgischer Texte zu verwenden. Der Gottesdienst hat eine bestimmte Form, eine bestimmte Dramaturgie, und es ist gar nicht so leicht, da einfach Popsongs zu integrieren. Man kann das Ganze aber durchaus in einen Dialog setzen. Wir sollten versuchen, vorurteilsfrei wahrzunehmen, worüber sich die Menschen in der populären Kultur eigentlich verständigen und was dort verhandelt wird.
Kann es einen Dialog geben, wenn Sie doch mit der Bibel im Besitz der Wahrheit und eher auf Verkündigung ausgerichtet sind?
Natürlich ist die Theologie eine Glaubenswissenschaft, und es gibt im christlichen Glauben mit der Heiligen Schrift ein Fundament, das man nicht so einfach wegschieben kann. Ich bin aber davon überzeugt, dass es in den biblischen Erzählungen um etwas geht, das auch unser heutiges Leben ausmacht. Ich sehe meine Aufgabe darin, kirchliche Rituale und lebensweltliche Erfahrung in eine produktive Spannung zueinander zu bringen und Liturgie als einen dritten Raum zu begreifen, in dem eine Kommunikation zwischen diesen beiden Welten stattfindet. Im Idealfall entsteht dann daraus etwas Neues.
Braucht die Kirche nicht eher YouTube-Klickmonster wie den irischen Priester Father Ray Kelly, damit die Jugend ihr nicht davonläuft?
Dass sich die ganze Familie am Sonntag in der Kirche versammelt, war immer eher Ideal als Realität. Indem wir einfach das Gloria streichen und durch einen Pop-Hit ersetzen, verändert sich nichts. Ich vertraue da eher auf die Kraft des Glaubens und jahrtausendealte Ritualkompetenz.
Vorlesung „Religion in populärer Kultur der Gegenwart“