Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken Gute Freunde zum Stapeln

Gute Freunde zum Stapeln

Einst sollten Bücher Mädchen zu willfährigen Damen und Jungs zu mutigen Männern erziehen – heute will Kinder- und Jugendliteratur vor allem Freiräume schaffen

Freiburg, 11.09.2018

Gute Freunde zum Stapeln

Foto: wip Studio/Fotolia

„Kinder brauchen Freiräume“: Unter diesem Slogan steht der diesjährige Weltkindertag. Mit der Umsetzung dieses Mottos mag es nicht immer und überall rosig aussehen. Aber immerhin käme hierzulande wohl kaum jemand auf die Idee, UNICEF dabei zu widersprechen, dass nur eine Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche ernst genommen werden, wirklich kinderfreundlich und damit zukunftsfähig sei. Historisch gesehen ist die Idee, Kindern Freiräume zu gewähren, allerdings noch gar nicht so alt. Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Weertje Willms vom Deutschen Seminar der Universität Freiburg erläutert das im Gespräch mit Jürgen Reuß anhand eines Blicks in die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur.


Einst trat der Erzähler einer Geschichte als Erzieher der Kinder auf, im Laufe der Jahre entwickelte er sich zu ihrem Freund. Inzwischen erzählen die kindlichen Helden ihre Geschichte sogar zumeist selbst aus der Ich-Perspektive. Foto: wip Studio/Fotolia

Frau Willms, wer heute in der Buchhandlung nach Kinderliteratur schaut, hat eigentlich nur ein Problem: die Qual der Wahl. Vor 200 Jahren sah das noch anders aus, oder?

Weertje Willms: Allerdings. Im Grunde entsteht, wenn man von ein paar mittelalterlichen Schriften zur religiösen Unterweisung und Tugenderziehung mal absieht, Kinder- und Jugendliteratur erst mit Beginn der Aufklärung. Das Bewusstsein, dass Kindheit überhaupt ein eigenständiger Lebensabschnitt sein kann, ist eng an die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft gekoppelt. Das ist die Geburtsstunde der Vorstellung, dass die Frau zu Hause bleibt und so etwas wie eine Kinderstube einrichtet, die es vorher so nicht gab.

Und entspricht diese Kinderstube dem heute geforderten Freiraum?

Nein. Schon bei den unbeschäftigten Frauen, die zu Hause waren, hatten die Männer Sorge, dass die vermehrt erhältlichen Druckerzeugnisse sie zu unerwünschten Phantasien anregen würden. Wenn also darüber nachgedacht wurde, was Kinder brauchten, stand immer die Einübung gesellschaftlicher Normen im Vordergrund. Demgemäß war Kinderliteratur damals ganz eng mit dem parallel entstehenden pädagogischen Diskurs verzahnt und hatte eine klare erzieherische Aufgabe. Kindheit als eigenen Raum gab es noch nicht. Es war die Zeit, in der Mädchen und Jungen die Rollen des Erwachsenendaseins einüben mussten.

Wie sah die passende Kinderliteratur dazu aus?

Joachim Heinrich Campe, einer der ersten, der sich als Kinderliterat hervorgetan hat, war bezeichnenderweise gleichzeitig Reformpädagoge. Bekannt wurde er mit seinem 1779 erschienenen und bis heute erhältlichen Werk „Robinson der Jüngere“. Vordergründig ist das eine freie Adaption von Daniel Defoes Abenteuerklassiker. Aber entscheidend ist die Rahmenhandlung. Da sitzt der Hausvater inmitten einer Kinderschar und nutzt die Erzählung zum Einüben von Wissen und moralischem Verhalten. Alle Kinderbücher im 18. Jahrhundert waren auf diese Weise didaktisch, vermittelten das geltende religiöse, gesellschaftliche und moralische Verhalten. Ein weiteres berühmtes Buch von Campe heißt „Vaeterlicher Rath für meine Tochter“ und erklärt einem 15-jährigen Mädchen, wie es sich beim Eintritt in die Gesellschaft zu verhalten habe.

Ab wann durften Kinder und Jugendliche ein Buch einfach mal aus Spaß lesen?

Für die „reifere Knabenwelt“ gab es im 19. Jahrhundert richtige Abenteuerromane, in denen jugendliche Helden nach Afrika und in die Südsee fahren. Das mag beim Lesen Spaß gemacht haben, aber gleichzeitig wurde mit diesen Texten eine ganz bestimmte Männlichkeitsnorm eingeübt. Da ist etwa der starke, mutige, junge „Herrenmensch“, der in den Kolonien das richtige Auftreten lernt, um am Ende die Reederei des Vaters zu übernehmen. Interessanterweise stammen viele dieser Jungsabenteuer aus der Feder einer Frau, Sophie Wörishöffer.


„Phantasie und Humor haben die moralinsauren Kinderstuben in freie und geschützte Räume verwandelt“, sagt Weertje Willms über Kinder- und Jugendliteratur ab den 1950er Jahren. Foto: Thomas Kunz

Die Männerphantasien wurden von einer Frau ausbuchstabiert?

Ja, aber sie handelte dabei nach Vorgaben des Verlags. Als mittellose Witwe mit unehelichem Sohn erschrieb sie sich den Ruf als „Karl May von Altona“. Die Bücher waren sehr erfolgreich, obwohl sie nach heutigen Maßstäben rund 90 Euro pro Stück kosteten. Auf dem Titel erscheint sie aber nur als S. Wörishöffer, um die Illusion eines männlichen Autors nicht zu zerstören.

Und was lasen die Mädchen?

Überwiegend Bücher wie Emmy von Rhodens „Der Trotzkopf“ oder Else Urys „Nesthäkchen“-Serie. Ende des 19. Jahrhunderts kamen auch frauenrechtlerische Jugendbücher auf, die mit den Backfischromanen brachen, blieben aber Nischenbücher und sind heute, anders als „Der Trotzkopf“, weitgehend vergessen.

Wann setzte der Wandel hin zum heutigen Verständnis von guter Kinder- und Jugendliteratur ein?

Es gab schon im 19. Jahrhundert sowohl eine konservative als auch eine innovative Linie, letztere durch die Kunstmärchen der Romantik oder Solitäre wie Lewis Carolls „Alice in Wonderland“ vorbereitet. Aber ab dem 20. Jahrhundert wurden die pädagogisch und ästhetisch innovativen Texte richtig populär: Für Deutschland war Erich Kästners „Emil und die Detektive“ von 1929 der Durchbruch, ihm folgten nach der Nazizeit Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“, das in Schweden 1945 und 1949 in Westdeutschland erschien. Ab den 1950er Jahren waren es die Autoren Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende, die eine „Literatur der Kindheitsautonomie“ erschufen.

Ab da bekamen Kinder auch in der Literatur endlich Freiräume?

Der Erfolg dieser Bücher zeigt, wie sich die Vorstellung von Kindheit gewandelt hat. Der Erzähler wurde zunächst vom Erzieher zum Freund der Kinder, heute erzählen die kindlichen Helden ihre Geschichte sogar zumeist selber aus der Ich-Perspektive. Phantasie und Humor haben die moralinsauren Kinderstuben in freie und geschützte Räume verwandelt, in denen sich die Heranwachsenden offen und geborgen entfalten dürfen – zumindest in den guten Jugendbüchern. Denn auch die konservative Linie ist immer noch deutlich auf dem Buchmarkt präsent.