Es lese die Revolution
Freiburg, 28.11.2017
Nein, zur Zeit der Kulturrevolution war China keine literarische Wüste. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint. Lena Henningsen, Juniorprofessorin am Institut für Sinologie, will mit Vorurteilen wie diesem aufräumen, indem sie Lesepraktiken der Volksrepublik China aufarbeitet – von den 1940er Jahren bis heute. Die 39-jährige Sinologin will wissen, wer was, wann, wo und unter welchen Bedingungen gelesen hat und wie sich sowohl Individuen als auch die Gesellschaft durch das Lesen verändert haben. Für ihr Projekt hat Henningsen einen Starting Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) in Höhe von 1,5 Millionen Euro erhalten. Das zehnte Jubiläum der ERC-Grants und ihre 50 Preisträgerinnen und Preisträger feiert die Albert-Ludwigs-Universität mit einem Einblick in ausgewählte Projekte: Eine Serie stellt zehn Köpfe im Porträt vor.
Lektürestunde: Lena Henningsens Projekt berücksichtigt Hochliteratur, Populärliteratur und Nicht-Literarisches, von Non-Fiction bis hin zu SMS. Foto: Yassine Laaroussi/Unsplash
China in den 1960er Jahren: Mao ist an der Macht und diktiert dem Volk über seinen Parteikader, was es zu lesen hat. In so genannten Lese- und Studiergruppen, die es in der Stadt und auf dem Land gab, traf man sich regelmäßig, um das, was die Kommunistische Partei an Lektüre vorgab, zu lesen – oft waren das die neuesten Proklamationen des großen Vorsitzenden Mao. Allerdings seien nicht alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lesezirkel den propagandistischen Ausführungen gefolgt, sagt Henningsen. Die Bauern zum Beispiel nutzten die Treffen für ein willkommenes Schläfchen zwischendurch.
Während der Kulturrevolution sei allerdings nicht nur in den offiziellen Studiergruppen gelesen worden. Vor allem die jungen Intellektuellen, die zur Umerziehung aufs Land geschickt worden waren, hätten sich im Geheimen mit ganz anderem als der Parteilektüre beschäftigt. „Sie lasen sich durch viele westliche Texte, aber auch durch verbotene chinesische Literatur“, erläutert Henningsen. Verteilt wurden die Bücher oft über die Kinder der Parteikader, denn die Kader durften auch jenseits der Propaganda lesen. Mitunter exzerpierten sie auch das Wichtigste aus den Texten und reichten die Notizen im Bekanntenkreis herum. All das führte zu einer inoffiziellen Literaturproduktion, bereits vor Maos Tod im Jahre 1976. Schon Ende der 1960er Jahre entstand die so genannte Narben-Literatur, die die Traumata der Kulturrevolution aufbereitete, oder aber die so genannte obskure Dichtung.
Freilegen und verstehen
Wenn Henningsen erzählt, dann springt der Funke über. Sie will wissen, was wirklich war. Gemeinsam mit ihrem Team wird sie sich durch jede Menge autobiografischer, ethnologischer, historischer und literarischer Quellen durcharbeiten, die es in Teilen erst einmal in lokalen Archiven aufzutreiben gilt. Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sollen das Bild vervollständigen. Mit dieser intensiven Recherche will die Sinologin die Lesepraktiken ausgraben, freilegen, verstehen. Unter anderem, wie Literatur bis in die chinesische Gesellschaft hineinwirkt.
Bestseller wie „Der Fänger im Roggen“ oder „Unterwegs“ haben einer ganzen Generation vor Augen geführt, dass Individualität nichts Schlechtes ist und auch gelebt werden darf, sagt Lena Henningsen. Foto: Thomas Kunz
Bestseller aus dem Westen wie etwa „Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger oder „Unterwegs“ von Jack Kerouac seien in den 1970er Jahren echte „Eye-opener“ gewesen. „Sie haben einer ganzen Generation vor Augen geführt, dass Individualität nichts Schlechtes ist und auch gelebt werden darf.“ Das verändert. Die Hochliteratur ist aber nur ein Aspekt. Henningsen untersucht auch Populärliteratur und Nicht-Literarisches, von Non-Fiction bis hin zu SMS. Während unter Maos Herrschaft über das staatliche Buchverteilungssystem diktiert wurde, was beliebt zu sein hatte, entsteht Popularität heute in einem kommerziellen Buchmarkt, auf dem weiterhin Kontrolle und Zensur eine wichtige Rolle spielen. Parallel dazu existiert aber auch ein Schwarzmarkt, der funktioniert, weil Verbotenes immer interessant ist – und auch weil der offizielle Buchmarkt mitunter ineffizient sei und nicht genug Bücher zur Verfügung stelle, berichtet Henningsen.
All diese Bereiche samt ihrer Protagonistinnen und Protagonisten will Henningsen mit ihrem Team erforschen, systematisieren und quantifizieren. Anders als im Westen seien die Lesepraktiken in China von einem sozialistischen Staat geprägt, der gerade in der Mao-Zeit seine Bürgerinnen und Bürger mithilfe seiner Kulturpolitik reformieren wollte. Zudem gebe es eine zentralisierte Bürokratie, die Produktion, Distribution und Zugang zu Literatur mitunter massiv reguliere, erklärt Henningsen. „Am Ende des Projekts wollen wir wissen, welche Lesetypen und -praktiken die Ausnahme sind oder für ihre Zeit repräsentativ.“
Stephanie Streif
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