Diktatur und historische Gerechtigkeit
Freiburg, 13.04.2021
Wie kann ein Land mit den Verbrechen einer Diktatur umgehen? Die Antworten auf diese Frage entscheiden nicht selten darüber, ob einer Gesellschaft eine Neuorientierung gelingt oder ob sie von gesellschaftlichen Konflikten zerrissen wird. Verkomplizierend kommt hinzu, dass es nicht in jeder gescheiterten Diktatur zwangsläufig auf einen demokratischen Neuanfang hinausläuft. Aber kann sich auch eine Diktatur mit Staatsverbrechen auseinandersetzen, obwohl sie im eigenen Namen begangen wurden? Dem geht der Freiburger Sinologe Prof. Dr. Daniel Leese in seinem Buch „Maos langer Schatten“ am Beispiel der Umbruchphase in China nach, die auf Mao Zedongs Tod Mitte der 1970er Jahre folgte. Der Freiburger Forscher hatte für dieses Projekt die renommierte Auszeichnung ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (European Research Council, ERC) eingeworben. Jüngst ist sein Buch für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert worden. Im Interview mit Jürgen Reuß erläutert Leese die folgenreichen historischen Weichenstellungen nach der Kulturrevolution und inwieweit diese den Kurs beeinflusst haben, auf dem sich die neue Supermacht China heute befindet.
Allgegenwärtiger Schatten: Der Personenkult um Mao Zedong äußert sich auch heutzutage in vielen Devotionalien. Foto: TMAX/stock.adobe.com
Herr Leese, mal ganz platt gefragt: Werden Staatsverbrechen einer Diktatur nicht immer erst aufgearbeitet, wenn die Diktatur vorbei ist?
Daniel Leese: Das ist im Allgemeinen zweifellos richtig. Es gibt für die Aufarbeitung historischen Unrechts mittlerweile eine Art Standardmodell, das von einer nachfolgenden Demokratisierung ausgeht. Dieses Modell arbeitet mit einem Instrumentarium, das man mit dem Begriff „Transitional Justice“ umschreibt. Es umfasst verschiedene Maßnahmen, mittels derer das Erbe vormaliger Menschenrechtsverletzungen aufgearbeitet und eine gesellschaftliche Aussöhnung stattfinden soll. Ein Beispiel sind die südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen.
Südafrika vollzog einen Demokratisierungsprozess, aber die Volksrepublik China?
Interessant am chinesischen Beispiel ist, dass auch dort nach Maos Tod eine Reihe ähnlicher Mechanismen angewandt wurden, die allerdings nicht das Ziel erfüllen sollten, durch eine Aufarbeitung historischen Unrechts die Parteidiktatur zu überwinden. Vielmehr war das Ziel, diese zu stärken. Es ging also um ein vorsichtiges Austarieren des Widerspruchs, wie eine Diktatur sich mit selbst verursachtem Unrecht auseinandersetzen kann, ohne dass die Parteiherrschaft kollabiert.
Was bringt Aufarbeitung, wenn die Diktatur nicht kollabiert?
Das ist eine Frage der Perspektive. Aus Sicht eines betroffenen Individuums war sicher in vielen Fällen weniger die abstrakte Frage nach der Staatsform von Belang als die Behandlung konkret erlittenen Unrechts. Ein Ergebnis unserer Forschungen besteht darin zu zeigen, dass die Partei sich nach dem Tod Maos in Richtung einer Fürsorgediktatur entwickelte. Alte Fragen des Klassenkampfes wurden stillschweigend ad acta gelegt und Millionen von Unrechtsfällen symbolisch rehabilitiert. In begrenztem Umfang wurden auch materielle Entschädigungen geleistet. Durch die individuelle Klärung der Ansprüche vermied die Partei das Entstehen organisierter Protestbewegungen und nutzte jede Rehabilitierung dazu, die Schuld für die Vergangenheit auf die „böse Viererbande“ um Maos Frau Jiang Qing zu schieben. Einen rechtlichen Anspruch auf Rehabilitierung gab es jedoch nicht, und wo sich Widerstand organisierte, wurde dieser zerschlagen.
Nach Mao war kurzfristig ein anderes China denkbar?
Ich zeichne in meinem Buch nicht zuletzt die Politik des späteren Generalsekretärs Hu Yaobang nach, der für den Versuch steht, ein Modell des demokratischen Sozialismus in der Volksrepublik China zu etablieren. Er symbolisierte ein anderes China, wurde aber nach parteiinternem Gegenwind Anfang 1987 kaltgestellt. Sein Tod im April 1989 war der Anlass für die Proteste auf dem Tiananmen-Platz.
Über ein Jahrzehnt wurden demokratisierende Strömungen toleriert?
Es existierte eine sehr komplexe Gemengelage. In der Tat wollten auch viele Mitglieder der Parteielite vor dem Hintergrund der Kulturrevolution demokratischere Entscheidungsprinzipien und ein Modell sozialistischer Gesetzlichkeit etablieren. Aber über die konkreten Fragen nach der Einhegung der Sonderrolle der Partei und nach dem Status des Rechts gab es tiefgreifende Kontroversen. Während einige Altfunktionäre am liebsten zurück in die 1950er Jahre wollten, forderten Teile von Partei und Gesellschaft nicht nur eine soziale und ökonomische Transformation, sondern auch politische Reformen. Diese Spannung zog sich durch die ganzen 1980er Jahre und macht diese zu einem faszinierenden Jahrzehnt.
Für seine Forschung hat Daniel Leese in den vergangenen zehn Jahren gemeinsam mit seinem Team Dokumente aus aufgelösten Archiven, Antiquariaten und Privatsammlungen erworben. Foto: Daniel Leese
Warum hat Mao als charismatischer Führer sein Charisma nicht auf einen Nachfolger übertragen, wie es Diktatoren gerne tun?
Er hat es versucht, aber niemand Geeigneten gefunden. Verteidigungsminister Lin Biao starb 1971 bei einem Flugzeugabsturz. Was die Mitglieder der „Viererbande“ anbetraf, so traute Mao ihnen die Aufgabe nicht zu, die gesamte Partei integrieren zu können. Parallel baute er Deng Xiaoping als Nachfolger Zhou Enlais als Ministerpräsident auf. Aber in seinem letzten Lebensjahr kam es zum Zerwürfnis, da ihm Deng in der Frage der Bewertung der Kulturrevolution nicht bedingungslos folgte. Kurz vor seinem Tod beschloss Mao, mit dem heute weitgehend vergessenen Funktionär Hua Guofeng auf einen Vertreter der jüngeren Generation zu setzen. Dem blieb als Legitimation aber wenig mehr als ein kleiner Zettel Maos mit dem Ausspruch: „Wenn du die Dinge in die Hand nimmst, kann ich beruhigt sein.“
Das genügte?
Die verbliebene Parteiführung wählte Hua Guofeng rasch in alle wichtigen Ämter. Er hatte auf dem Papier sogar eine größere Machtfülle als Mao. Aber ihm fehlte der dauerhafte Rückhalt in den Kreisen der Altfunktionäre sowie die Ruchlosigkeit, seinen Machtanspruch ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Die Möglichkeit, nach Mao Zedongs Tod in der Partei offen über Reformen zu diskutieren, ist dennoch eng mit seiner Person verbunden. Dies ist heute in Vergessenheit geraten, da insbesondere Deng Xiaoping ihn als reformfeindlich darstellte. Ein maßgeblicher Kritikpunkt richtete sich gegen Huas Personenkult, den Mao für ihn etabliert hatte. Damals entstand ein Grundkonsens in der Partei, dass die Gefahren eines exzessiven Führerkults für die Einheit der Partei zu groß seien. Nie wieder dürfe wie in der Kulturrevolution ein Mann das Volk gegen die Partei mobilisieren können.
Bis heute also kein Führerkult mehr in China?
Der Grundkonsens hielt eine Generation, auch wenn alle Parteiführer von Deng bis Hu Jintao begrenzte Kulte aufbauten. Heute kehrt Xi Jinping gewissermaßen zu einigen Prinzipien Maos zurück. Er nutzt den Personenkult offensiv als Mittel der Machtsicherung gegenüber auseinanderstrebenden Tendenzen in Partei und Staat. Diese Lehre aus der Kulturrevolution, die als Grundlage für alle späteren Parteiführer galt, gerät gerade zunehmend in Vergessenheit.
Für Ihr Buch ist es Ihnen gelungen, viele Dokumente dem drohenden Vergessen zu entreißen.
„Entreißen“ klingt so dramatisch. Die meisten Dokumente haben wir in den vergangenen zehn Jahren in mühsamer Kleinarbeit aus aufgelösten Archiven, Antiquariaten oder aus Privatsammlungen erworben. Dazu zählen zeitgenössische Personenakten, Tage- und Notizbücher, aber auch viel Parteischulungsmaterial. Allein 1979 waren 600.000 Personen mit historischen Fallrevisionen beschäftigt, die entsprechend instruiert werden mussten. Teile davon haben wir in einer Datenbank aufbereitet, um konkret zeigen zu können, wie historische Gerechtigkeit verstanden und umgesetzt wurde. Das ging nur mit einem hervorragenden Team. Wir haben darüber hinaus rund zwei Dutzend Staatsarchive durchforstet und viele Interviews geführt. Inzwischen wird entsprechende Forschung leider von offizieller Seite als „historischer Nihilismus“ bezeichnet, da sie nicht den Interpretationsvorgaben der Partei folgt.
Immerhin wird Ihrer Forschung so indirekt attestiert, dass sie Relevanz hat.
Dass könnte man so interpretieren. Es war ja von Anfang an klar, dass es sich um ein politisch brisantes Thema handelt. Ich bin dem Europäischen Forschungsrat sehr dankbar dafür, dass er hierfür dennoch großzügige Mittel bereitgestellt hat. Mit unserer Forschung und der Datenbank haben wir weltweit Anerkennung gefunden, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schon vor Projektende tolle Stellen erhalten haben, inklusive Assistenzprofessuren in Berkeley/USA und sogar der Volksrepublik China. Hierin sehe ich die schönste Anerkennung für unsere Arbeit.