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Unterwegs in einer Blase

Die Sinologin Lena Henningsen berichtet von ihrer Reise mit dem Bundespräsidenten nach China

Freiburg, 18.01.2019

Zwei Wochen vor der Reise kam aus heiterem Himmel die Einladung: Lena Henningsen, Juniorprofessorin am Institut für Sinologie der Universität Freiburg, hat im Dezember 2018 als Delegationsmitglied den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu einem Staatsbesuch in die Volksrepublik China begleitet. Im Gespräch mit Alice Tátrai-Gruda schildert Henningsen ihre Eindrücke, gibt eine Einschätzung der deutsch-chinesischen Beziehungen und erklärt, warum leise Töne in der Politik mehr bewirken können.


Schnappschüsse am Straßenrand: Neugierige begrüßen den Bundespräsidenten. Foto: Lena Henningsen

Frau Henningsen, wie wurden Sie zu einem Mitglied der Delegation?

Lena Henningsen: Das kam für mich aus heiterem Himmel: Zwei Wochen vor der Abreise bekam ich eine hochoffizielle, förmliche Einladung. Natürlich laufen die Vorbereitungen viel länger, um geeignete Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu ermitteln. Es war Herrn Steinmeier ein Anliegen, eine Kulturdelegation zusammenzustellen. Wir waren am Ende eine Handvoll Sinologinnen und Sinologen sowie Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler, die sich mit dem gegenwärtigen China beschäftigen. Meine Arbeiten zur Kultur und Literatur waren wohl entscheidend.

Welche Aufgaben hatten Sie als Mitglied der Kulturdelegation?

Mit der Mitarbeitergruppe von Herrn Steinmeier haben meine Kolleginnen und Kollegen und ich viele Gespräche geführt, in denen wir unsere Eindrücke schilderten und bewerteten. Auch Herr Steinmeier hat sich für unsere Sicht auf die Dinge interessiert. Bei bestimmten Themen haben wir Wissenschaftler einfach andere Einblicke, weil wir berufsbedingt in diesem Land viel mehr und auch anders unterwegs sind. Außerdem standen wir der Delegation und der Presse als Expertinnen und Experten zur Verfügung.

So eine offizielle Reise erfordert sicherlich eine sehr gute Organisation.

Die Reise war minutiös geplant, die Zeitpläne wurden genau eingehalten. Wir sind in einer Kolonne mit etwa 20 Autos gefahren. Durch die Polizeisperre sah das mitunter ziemlich gespenstisch aus. Wenn der Bundespräsident Gespräche führte, gab es zum Teil für die Delegationsmitglieder ein Alternativprogramm. Es ist schon ein Rundum-Sorglos-Paket. Aber es führt dazu, dass man in einer gewaltigen Blase unterwegs ist. Zwei Blöcke weiter herrscht normales Alltagsleben wie überall in China. Allerdings kann Herr Steinmeier nicht so einfach mal eine Nudelsuppe essen gehen. Er kann nur um die Ecke in diesen Alltag linsen.


Lena Henningsen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier tauschten sich unter anderem über die Folgen des digitalen Wandels in China aus. Foto: Lena Henningsen

Um welche Themen ging es bei dem Staatsbesuch?

Zunächst einmal wollte der Bundespräsident hervorheben, dass die Beziehungen zwischen China und Deutschland gut sind. Daneben standen aber auch die gesellschaftlichen Folgen des digitalen Wandels im Mittelpunkt – ein Thema, das in China von besonderer Brisanz ist, weil hier derzeit ein digitaler Überwachungsstaat aufgebaut wird. Das Land ist gerade dabei, ein Sozialkreditsystem einzuführen. Da werden Sanktionsmechanismen umgesetzt, um gesellschaftliches Wohlverhalten herbeizuführen, was die Bevölkerung scheinbar positiv aufnimmt. Bei einer geschlossenen Diskussion wurde aber deutlich, dass manche Chinesen dem auch sehr kritisch gegenüberstehen. In seiner Rede in Sichuan hat Herr Steinmeier diese beiden Anliegen rhetorisch extrem gut verknüpft: Er betonte, dass China viel geleistet habe, von der Armutsbekämpfung bis zu einem besseren Zugang zur Bildung. Aber er hob ebenso die Position der deutschen Seite hervor: Freiheitsrechte und Menschenrechte sind unerlässlich.

Wie reagierten die Chinesen auf die Rede?

Ich saß abends bei einem Bankett neben einem Kader. Auf meine Nachfrage, wie er die Rede fand, sagte er: „Passt schon.“ Aber sein Tonfall machte deutlich, dass er damit überhaupt nicht einverstanden war. In der chinesischen Berichterstattung kam, sofern ich das überblicken kann, nichts über die kritischen Untertöne. Da wurde nur berichtet, wie sehr der Bundespräsident die chinesische Entwicklung lobte. Aber wer weiß, was so eine Rede in den Köpfen der Anwesenden ausrichten kann. Ich denke, dass die Menschen eher auf leise Töne als auf die große Moralkeule ansprechen.


Politikwissenschaftler und Sinologen: Die Forschenden standen dem Bundespräsidenten sowie der Presse als Ansprechpartner zur Verfügung. Foto: privat

Wie schätzen Sie die aktuellen deutsch-chinesischen Beziehungen ein?

Ohne China geht nichts, das Land ist eine starke wirtschaftliche, politische und globale Macht. China ist ein wichtiger Handelspartner für Deutschland, es gibt Wissenstransfer und eine gegenseitige Wertschätzung. Aber vieles ist Rhetorik, und manche Dinge werden westlichen Regierungsvertretern nicht gezeigt, zum Beispiel die Umerziehungslager für die muslimische Minderheit der Uiguren in Xinjiang. Auch als Forschende erleben wir derzeit einen Wandel in China: Während wir vor ein paar Jahren noch mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft sahen, was eine wachsende Meinungsfreiheit angeht, so erleben eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen nun, dass ihnen die Archive vor der Nase zugemacht werden, Feldforschung unmöglich wird und Interviewpartnerinnen und -partner aus Angst Termine absagen.

Was können die Politik und Wirtschaft tun?

Führungskräfte in der Politik wie auch in der Wirtschaft müssen geschickt und stets beharrlich ihre Positionen vortragen. Trotz der starken Kontrolle gibt es immer wieder Brüche und Risse im System, und das muss man ausnutzen. Und man muss eben auch mal mit Zwischentönen arbeiten. Von chinesischer Seite wird gerne argumentiert, dass sich China eine Einmischung in seine Angelegenheiten verbiete. Doch Türen zuschlagen würde die Lage nicht verbessern. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, im Gespräch zu bleiben. Und es wäre natürlich hilfreich, wenn die europäischen Länder eine halbwegs gemeinsame Strategie für China erarbeiten würden, damit China sie mitunter nicht mit bilateralen Abkommen gegeneinander ausspielt.