Progressive Geister in den Gassen
Freiburg, 08.02.2019
Stadt- und Universitätsgeschichte lebendig werden lassen: Das geht am besten beim Eintauchen in die Biografien von Menschen aus vergangenen Epochen. Das hatte auch ein Veranstalterkollektiv, darunter die Abteilung Landesgeschichte des Historischen Seminars der Universität Freiburg, im Sinn: Bei der Vortragsreihe „Auf Jahr und Tag“ zeichnen Forschende das Leben im neuzeitlichen Freiburg anhand historischer Persönlichkeiten nach, die in Kunst und Kirche, in Wissenschaft und Wohlfahrtspflege, in Politik und im Widerstand gegen die Nationalsozialisten gewirkt haben. Anita Rüffer hat sich auf die Spuren der progressiven Geister begeben.
Späte Ehre: Eine Straße im neuen Freiburger Stadtbezirk Brühl-Güterbahnhof gedenkt der Forscherin, die 1933 von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben wurde. Fotos: Sigrid Gombert; Universitätsarchiv Freiburg/UAFD001301393
Martin Waldseemüller – ein Kartograf, der die Grenzen verschiebt
Noch 500 Jahre nach seinem Tod sorgt der zwischen 1472 und 1475 in Wolfenweiler bei Freiburg geborene Kartograf für mediale Aufmerksamkeit: Seine Weltkarte von 1507, auf der erstmals der Pazifische Ozean verzeichnet und Amerika als eigenständiger Kontinent abgebildet und benannt werden, wurde 2005 von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt. Von den einst 1.000 im Holzschnittverfahren gedruckten Exemplaren hat nur ein einziges die Jahrhunderte überdauert. 2001 hat es ein oberschwäbisches Fürstenhaus für zehn Millionen US-Dollar an die Library of Congress in Washington verkauft. Dr. Martin Lehmann hat das Original sogar mal in der Hand gehalten und mit dafür gesorgt, dass an der Löwenstraße beim Kollegiengebäude III eine Gedenktafel und eine originalgetreue Abbildung der Karte an den berühmten Studenten der Albert-Ludwigs-Universität erinnern. Als „Mann zwischen zwei Welten“ hat Lehmann Waldseemüller kennengelernt: mit einem Bein noch im Mittelalter, mit dem anderen schon mittendrin im Jahrhundert der Entdeckungen: Neue Weltgegenden tauchen auf, der Buchdruck wird erfunden, die Reformation wirft ihre Schatten voraus. Beide Welten haben in Waldseemüllers Wirken ihre Spuren hinterlassen.
Produktives Gespann
Belegt ist, dass Waldseemüller, der ursprünglich Waltzenmüller hieß, sich am 7. Dezember 1490 als Student der Mathematik und Geografie an der Universität Freiburg einschrieb. Daraus lässt sich sein ungefähres Geburtsjahr rekonstruieren. Aufgewachsen ist er in Freiburg, wo sich sein Vater Konrad ab 1480 niederließ. Der Metzger muss sich ziemlich unbeliebt gemacht haben: 1492 wurde er auf der heutigen Kaiser-Joseph-Straße vor dem Haus seiner Zunft ermordet. Der Karriere seines Sohnes tat das keinen Abbruch: Mit seinem Kommilitonen Matthias Ringmann, einem Elsässer, ging er nach dem Studium nach St. Dié, wo er am 16. März 1520 starb. Die beiden arbeiteten eng zusammen: Waldseemüller als Kartograf, dessen Weltkarte von 1507 die Sicht auf die Welt veränderte; sein Kollege als Verfasser einer einführenden Begleitschrift dazu. Ringmann brachte den Namen „Amerika“ für den neuen Erdteil ins Spiel – nach dem Seefahrer Amerigo Vespucci, der die Ostküste Südamerikas erforschte und einen Bericht über die „Neue Welt“ verfasst hatte.
Von freier Grundlagenforschung und dem Bestreben, neue Erkenntnisse über die Welt möglichst realitätsnah kartografisch abzubilden, konnte bei dem Gespann nach Ansicht von Martin Lehmann keine Rede sein: „Waldseemüller verschleierte, wie es wirklich war.“ Lehmann spricht von „politischen Karten“, sieht sie als Werkzeug von Handelsinteressen, finanziellen Abhängigkeiten, politischen Verflechtungen. Die Portugiesen etwa wollten die Spanier von ihren Handelswegen fernhalten, um den eigenen Reichtum durch den Gewürzhandel nicht zu gefährden. Waldseemüller baute Barrieren ein, verknüpfte antike Quellen mit neuzeitlichen, verzerrte Proportionen. Auch dass Amerika als eigenständiger Erdteil dargestellt wurde, könnte ursprünglich ein „Fake“ zur Irreführung der Spanier gewesen sein.
Martin Waldseemüllers Karte wurde 2005 von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt. Foto: Universität Freiburg
Bartholomä Herder – Verlagsvater und pfiffiger Geschäftsmann
Wer in Freiburg den Namen „Herder“ hört, hat sofort den charakteristischen Herderbau an der Habsburgerstraße vor Augen. Das vom Architekten Carl Anton Meckel zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaute rote Haus darf als steinernes Zeugnis für die Verlegerdynastie gelten, die mit Bartholomä Herder zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Freiburg ihren Anfang nahm und mit Manuel Herder, der den Verlag in sechster Generation leitet, bis in die Gegenwart andauert. Der Verlagsgründer selbst hat das repräsentative Domizil nicht mehr kennengelernt. Sein umtriebiges Leben endete 1839 mit 65 Jahren. Da war er längst in der Mitte der Freiburger Stadtgesellschaft angekommen.
Herders Mutter stammte aus einer Metzgerfamilie, sein Vater war Schneider, Tuchhändler und Ratsherr. In die Wiege gelegt war dem Sohn die Liebe zum Buch also nicht. Die Eltern schickten den Ältesten ihrer fünf Kinder an die Klosterschule in St. Blasien. Geistlicher hätte er werden sollen. Aber es zog ihn in die Welt der Bücher. In der Meersburger Residenz des Fürstbischofs von Konstanz trat er 1801 als Hofbuchhändler an. Aber 1806 machte die Säkularisation mit der umfassenden Länder-Neuordnung Herders Karriere einen Strich durch die Rechnung. Meersburg schrumpfte zum unbedeutenden Landstädtchen. Was tun? In die badische Hauptstadt Karlsruhe übersiedeln? Er entschied sich für Freiburg wegen seiner katholisch geprägten Universität und eröffnete eine akademische Buchhandlung. Es drängte ihn, wie Christoph Schmider, Leiter des erzbischöflichen Archivs in Freiburg, erzählt, aber gleichzeitig ins Druck- und Verlagsgewerbe. Herder pachtete die klösterliche Buchdruckerei von St. Blasien, die nach der Säkularisation nach Freiburg abgewandert war.
Ein Kreis für Honoratioren
Bis heute haftet dem Herder-Verlag das Etikett von „Gottes eigenem Verlag“ an. Kein Papstbuch, das nicht bei ihm erschiene. Sein Gründer muss ein pfiffiger Unternehmer gewesen sein: Er weitete das Verlagsprogramm auf Geschichte, Kunst und musikalische Werke aus. Aus Frankreich hatte er mit der Lithografie eine bessere und preisgünstigere Drucktechnik mitgebracht. So ließen sich ganze Bildergalerien herstellen, etwa zur Illustration von Nachschlagewerken. Herder gründete ein eigenes Kunstinstitut, an dem auch der Maler Franz Xaver Winterhalter seine Ausbildung machte. Als „begnadeten Netzwerker“ hat man sich den Vater von zwei Söhnen und sechs Töchtern laut Christoph Schmider vorzustellen. So traf sich in seinem Haus die von Freiburger Honoratioren gegründete Lesegesellschaft zum gemeinsamen Lesen der teuren Druckwerke. Mehrere aus diesem Kreis wurden zu Hausautoren des Herder-Verlags. Karl von Rottecks „Allgemeine Geschichte“ avancierte zum Bestseller. Der Verleger ist, so Schmider, „gerade in den Kriegen gegen Napoleon viel rumgekommen“: Selbst bei den Friedensverhandlungen in Paris und beim Wiener Kongress 1814/15 war er als Direktor der kaiserlich-königlichen Feldpresse vertreten.
Im charakteristischen Herderbau an der Habsburgerstraße sind Institute der Universität Freiburg untergebracht. Foto: Sandra Meyndt
Georg Schneider – der vergessene Baumeister
Auch Georg Schneider muss gewusst haben, wie das Netzwerken funktioniert. „An viele seiner Aufträge ist er durch persönliche Verbindungen gekommen“, erklärt die Kunsthistorikerin Stephanie Zumbrink. Von denen hatte der 1809 in Eichstetten geborene, im evangelischen Milieu verankerte Architekt unzählige. War er doch nicht nur zeitweise Universitätsbaumeister und als Mitglied des Verwaltungsrats des Evangelischen Stifts auch dessen Baumeister. Von 1842 bis 1877 war er an der Gewerbeschule auch für die Ausbildung im Bauhandwerk zuständig. Und er pflegte eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Architekten und Hochschullehrer Friedrich Eisenlohr, dessen Schüler er gewesen war. Eisenlohr baute die Bahnhöfe und Bahnwärterhäuschen für die Badische Eisenbahn, aber auch Schloss Ortenberg bei Offenburg oder die – nicht mehr existierende – Festhalle im Freiburger Stadtgarten. Dafür übernahm Schneider die Bauleitung. Was nicht heißt, dass er in der seinerzeit schnell wachsenden Stadt Freiburg und ihrer Umgebung nicht auch viele eigene Entwürfe realisierte.
Spärliche Quellen
Viel ist davon nicht mehr erhalten. Womit sich erklären mag, dass der umtriebige Georg Schneider, der 1883 in Badenweiler starb, der heutigen Öffentlichkeit kaum noch bekannt ist. Unter seiner Verantwortung standen zahlreiche Synagogen – etwa in Freiburg, Kippenheim und Müllheim –, die Universitätsbauten im Institutsviertel – in beiden Weltkriegen von Bomben zerstört –, ebenso wie die Stiftsbauten. Aber am Colombischlössle, heute Heimstatt des archäologischen Museums Freiburg, lässt sich sein Baustil studieren: eine Nachahmung der englischen Tudor-Gotik. Ansonsten findet sich eine Mixtur aus romanischen, gotischen und byzantinischen Elementen. Auch Schneiders Wohnhaus an der Gartenstraße, in dem er mit Frau und neun Kindern lebte, steht bis heute. Noch wenig erforscht ist sein Wirken laut Stefanie Zumbrink. Auch über seine Person sei wenig bekannt. Aus spärlichen Quellen weiß man, dass er zunächst eine Zimmermannslehre absolvierte, bevor er eine Zeichenschule in Freiburg besuchte und dann am Karlsruher Polytechnikum studierte. Zahlreiche Baupläne sind aber noch erhalten, darunter auch eine Sammlung einfacherer Entwürfe, die er für seine Gewerbeschüler anlegte. Er mag kein Stararchitekt wie Friedrich Weinbrenner in Karlsruhe oder Karl Friedrich Schinkel in Berlin gewesen sein. Aber er war laut Zumbrink „technisch auf der Höhe der Zeit und ein guter Baumeister und Lehrer.“
Von Georg Schneider stammt der Entwurf für die Freiburger Synagoge – 1938 wurde sie von Nationalsozialsten zerstört. Foto: Wikimedia Commons
Bertha Ottenstein – eine vertriebene Vorreiterin
Seit 2005 ist ihr Name zumindest in der universitären Öffentlichkeit wieder präsent: Mit dem Bertha-Ottenstein-Preis fördert die Universität Freiburg die Gleichstellung der Geschlechter. Ein „großer Wurf“, findet Karl-Heinz Leven, Professor für Medizingeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Hatte sich die Medizinerin und Chemikerin mit den zwei Doktortiteln doch zu Beginn der 1930er Jahre als erste Frau in Deutschland im Fach Dermatologie habilitiert und demselben mit ihren Forschungen, etwa über den Säureschutzmantel der Haut, innovative Impulse verliehen. Die konnte die Dermatovenerologie, wie sie damals noch hieß, gut gebrauchen. Dem Fach haftete der Ruch des Unmoralischen an, weil es mit der Behandlung von Geschlechtskrankheiten verknüpft war, die sich seit der Jahrhundertwende wie eine Epidemie verbreitet hatten. „Das wollte kein anständiger Arzt machen. Die Patienten durften ihren Doktor in der Öffentlichkeit nicht einmal grüßen“, erzählt Leven. Doch das Fach war im Aufwind: Die Heeresbordelle des Ersten Weltkriegs waren zu Brutstätten für Geschlechtskrankheiten geworden. Nach der Niederlage und Demobilisierung gab es eine Welle von Klinikgründungen. Inhaltlich und therapeutisch öffneten sich neue Horizonte.
Ein Leben als Außenseiterin
An der Freiburger Hautklinik, die in das Garnisonslazarett an der Hauptstraße umgezogen war, wo sie bis heute zu Hause ist, waren um 1930 unter Klinikleiter Georg Alexander Rost progressive Geister am Werk. Der Chef hatte das Potenzial seiner Assistentin Bertha Ottenstein erkannt: Er scherte sich weder darum, dass sie eine Frau noch dass sie Jüdin war und förderte ihre wissenschaftliche Karriere. Mit ihrer fächerübergreifenden Grundlagenforschung nah an der klinischen Praxis war sie ihrer Zeit voraus. Es ging – auch für Rost – unter der Naziherrschaft nicht lange gut: 1933 musste Ottenstein wegen ihrer jüdischen Herkunft die Universität verlassen. Eine Zuschreibung, die ihr von den Nazis übergestülpt worden sei. Für sie selbst, die als jüngstes von sechs Kindern 1891 in eine assimilierte Nürnberger Kaufmannsfamilie geboren worden war, habe das Judentum nie eine Rolle gespielt. Sie war „so deutsch, wie man es sich nur vorstellen kann“, sagt Leven. Umso fremder muss sich die unverheiratete und kinderlose Frau gefühlt haben, als es sie nach ihrer Vertreibung über Budapest und Ankara in die USA verschlug. Trotz ihrer guten Kontakte in der Dermatologen-Szene habe sie beruflich nicht mehr Fuß gefasst. Ihr Versuch, in den USA, wie vorgeschrieben, das Staatsexamen nachzuholen, scheiterte mehrfach an mangelnden Sprachkenntnissen. In den 1950er Jahren stellte sie Wiedergutmachungsansprüche an Deutschland. Ihr Leben endete tragisch: Bertha Ottenstein starb 1956 bei einem Badeunfall in den USA – am selben Tag wurde ihr der Bescheid aus Deutschland zugestellt.
Anspruch auf Augenhöhe: Bertha Ottenstein ist die erste Frau, die sich an der Universität Freiburg habilitierte. Foto: Universitätsarchiv Freiburg/UAFD001301394