Selbstbestimmt am Arbeitsleben teilnehmen
Freiburg, 06.02.2019
Enge Zusammenarbeit im universitären Alltag, ein neues Inklusionsteam, Regelungen und Verfahren zu Personalentscheidungen und Beschäftigung, regelmäßige Evaluationen: Das Rektorat, die Schwerbehindertenvertretung, die Inklusionsbeauftragten und der Personalrat der Universität Freiburg haben eine Inklusionsvereinbarung unterzeichnet. Was steckt dahinter?
Auf zu neuen Ufern: Die Inklusionsvereinbarung soll an der gesamten Universität bekanntgemacht werden. Foto: Sascha Bergmann/stock.adobe.com
Manfred Zahn sitzt in seinem Büro im Erdgeschoss der Hebelstraße 10, einem Neubau aus den 1990er Jahren. Es ist noch früh am Morgen, und der Wintertag tut sich schwer, aus der Dämmerung hervorzukriechen. Doch auf dem Tisch dampft bereits frischer Kaffee in bunten Bechern. Das hebt die Laune. So wie das zwölfseitige Papier, das Zahn mit zufriedenem Lächeln aus der Mappe zieht: Es ist die eben erst veröffentlichte Inklusionsvereinbarung. Ende Oktober 2018 wurde sie zwischen dem Rektorat, den Inklusionsbeauftragten, dem Personalrat und der Schwerbehindertenvertretung der Universität Freiburg abgeschlossen. Auch Zahn war maßgeblich daran beteiligt. Seit 2006 ist er gewählter Vertrauensmann der Schwerbehinderten an der Universität.
Damals gab es noch eine Vereinbarung mit Maßnahmen, die schwerbehinderte Beschäftigte in den Arbeitsprozess integrieren sollten. Das war gut gemeint, ging aber von der Idee einer Mehrheitsgesellschaft aus, die Randgruppen Zutritt gewährt. „Damit ist es nun zum Glück vorbei“, sagt Zahn. „Die neue Inklusionsvereinbarung ist das Resultat eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels: Nicht mehr die Beschäftigten müssen sich integrieren, sondern das Umfeld muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle Menschen – ob mit oder ohne Behinderung – selbstbestimmt am Arbeitsleben teilnehmen können.“ So will es auch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 2008 in Kraft trat.
Zwei Jahre Recherche
Wie die Inklusion gelingen soll, regelt die neue Vereinbarung. Dafür hatte zuvor ein vielköpfiges Team zwei Jahre lang die Situation an der Universität Freiburg unter die Lupe genommen, Gespräche mit behinderten Beschäftigten geführt, sich an anderen Universitäten und in Unternehmen über unterschiedliche Konzepte und Erfahrungen informiert und schließlich den Text ausgearbeitet. Er folgt dem Leitgedanken, dass Menschen nicht behindert sind, sondern behindert werden. Ziel sei es deshalb, ein breites Bewusstsein für mögliche Barrieren im Alltag zu schaffen, sagt Zahn – vom zu engen Aufzug über die fehlende Türautomatik bis zur nur eingeschränkt nutzbaren Website. Grundsätzlich solle die Unterscheidung „behindert“ oder „nicht behindert“ im Arbeitsleben an der Universität künftig keine Rolle mehr spielen. So steht es in der Präambel.
Walter Willaredt, Inklusionsbeauftragter und stellvertretender Kanzler der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, weiß, dass das ein hehres Ziel ist. Doch auch wenn es sich nicht von heute auf morgen realisieren lassen wird, ist er zufrieden: „Das Ergebnis unserer Arbeit kann sich sehen lassen.“ Erst recht, wenn man die aktuelle Situation kennt: Im vergangenen Jahr unterschritt die Universität Freiburg die gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquote von fünf Prozent für Behinderte deutlich. Mit ein Grund dafür könnte laut Willaredt die Altersstruktur der Angestellten sein: „Im wissenschaftlichen Bereich gibt es überdurchschnittlich viele junge Menschen, die seltener schwer erkranken.“ Fakt ist: Nur vier Prozent aller Schwerbehinderten in Deutschland sind von Geburt an beeinträchtigt, aber 86 Prozent aufgrund von Krankheit. Mit anderen Worten: Beeinträchtigung kann jede und jeden treffen. Und sei es nur temporär durch einen Beinbruch, eine Depression oder die Nebenwirkungen einer Krebstherapie. Deshalb profitieren alle von Inklusion.
Kultur der Offenheit
Mit der Vereinbarung hat sich die Universität auch zum Ziel gesetzt, den Anteil der Beschäftigten mit Behinderung zu erhöhen. Eine wichtige Rolle soll dabei das Inklusionsteam spielen, das sich aus der Schwerbehindertenvertretung, den Inklusionsbeauftragten und der Beauftragten für Chancengleichheit sowie Mitgliedern des Personalrats, der Stabsstelle Gender and Diversity, des Personaldezernats, des Betriebsärztlichen Dienstes, des Gleichstellungsbüros und der Auszubildendenvertretung zusammensetzt. „Wir wollen den Prozess der Inklusion auf eine möglichst breite Basis stellen und so den Kulturwandel, den er bedeutet, mit Leben füllen.“
Mindestens zweimal im Jahr wird sich das Inklusionsteam treffen, um Strategien und Maßnahmen zu erarbeiten, die dazu dienen, ein Klima zu schaffen, das dem Ziel der Inklusion gerecht wird. Diese Kultur der Offenheit braucht Kommunikation. Als Aufgabe für die nächsten Monate steht deshalb jetzt erst einmal ein Vermittlungs- und Informationsmarathon durch die Fakultäten und Einrichtungen der Universität Freiburg an, mit Präsentationen in Gremien wie Senat und Universitätsrat. „Das direkte Gespräch mit allen Beteiligten ist extrem wichtig“, sagt Willaredt, denn eines steht für ihn außer Frage: „Inklusion funktioniert nur, wenn alle mitmachen.“
Dietrich Roeschmann
Inklusionsvereinbarung der Universität Freiburg
Mit Rollstuhl und Greifzange
Als Barbara Schuler 2004 ihren Job als Sekretärin am Mathematischen Institut in der Abteilung für Didaktik antrat, war sie noch „Fußgängerin“. Die gelernte Kauffrau, die seit 15 Jahren mit der seltenen Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe lebt, wusste, dass sie wegen des zunehmenden Muskelabbaus in absehbarer Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen sein würde. Ihr eigenes Ladengeschäft hatte sie aufgeben müssen. Sie bewarb sich auf die Stellenausschreibung des Mathematischen Instituts – und bekam den Job. „Es war wie ein Sprung ins kalte Wasser“, erinnert sie sich und lacht. „Die Einarbeitungszeit war extrem knapp, aber ich bin toll aufgenommen worden. Alle Vorgesetzten und meine Kolleginnen haben von vorneherein alles dafür getan, dass das Umfeld stimmt.
Seit fünf Jahren braucht Barbara Schuler den Rollstuhl permanent. Er ist speziell für ihre Bedürfnisse angefertigt, mit Elektroantrieb, höhenverstellbar bis zu 80 Zentimeter – „damit ich auch mal an die oberen Regal rankomme“ – und knallrot wie ein Sportwagen. Schuler bewegt sich mit ihrem 150-Kilo-Rolli in fast tänzerischer Leichtigkeit durch ihr Büro, die Bibliothek und über die Flure des Instituts. Die Türen, die sie ständig nutzt, sind mit elektrischen Öffnern oder Bewegungsmeldern ausgestattet. Für den Seminarraum, den sie durchqueren muss, um in ihr Büro zu kommen, wurden schmalere Tische angeschafft. Ihr Schreibtisch lässt sich per Knopfdruck in der Höhe verstellen, und wo immer man hinschaut, liegt eine Greifzange bereit, mit der Schuler Dinge von Schränken holt oder vom Boden aufhebt. „Ich habe mein Arbeitsumfeld so optimal wie möglich gestaltet.“ Doch es gibt noch viel zu tun – von den Fenstern, die sie nicht selbstständig öffnen kann, weil die Griffe zu hoch sind, bis zu den Steckdosen an den Fußleisten, die sie vom Rolli aus nicht erreichen kann.
Vieles wird zum Hindernis
Wirklich problematisch wird es, wenn sie in andere Gebäude der Universität muss. Mal fehlt eine Rampe, dann wieder ist ein Seiteneingang verschlossen, oder – wie im Rektorat am Fahnenbergplatz – die Aufzüge sind zu klein. „Ich vergleiche meine Situation gerne mit der von jemandem, der sich ein Bein gebrochen hat. Wenn man auf Krücken unterwegs ist, wird plötzlich vieles zum Hindernis, das einem vorher gar nicht auffiel: Kopfsteinpflaster, Bordsteine, schwere Türen.“ Das schränkt die Möglichkeiten zur Teilhabe am öffentlichen Leben oft deutlich ein, nicht nur für Behinderte, sondern auch für Alte, Kinder, Schwangere oder Eltern mit Kinderwagen.
Barbara Schuler, seit Kurzem gewähltes Mitglied der Schwerbehindertenvertretung der Universität Freiburg, freut sich deshalb über die Unterzeichnung der Inklusionsvereinbarung. „Es wäre toll, wenn sie nun auch schnell umgesetzt werden würde – damit Inklusion bald nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist.“
Foto: Thomas Kunz