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Revolutionäre Resonanz

Eine Deutsche und ein Russe diskutieren, wie kulturelle Unterschiede die Betrachtung eines geschichtlichen Ereignisses beeinflussen

Freiburg, 08.11.2017

Revolutionäre Resonanz

Foto: photominus21/Fotolia

Die Russischen Kulturtage in Freiburg sorgen nicht nur für neue Einsichten in Sachen Theater, Musik, Kunst und Film. Auch die Wissenschaft begibt sich auf eine Spurensuche: Bei einer Konferenz zum Thema „100 Jahre Russische Revolutionen“ fragen junge Forscherinnen und Forscher nach den Auswirkungen des epochalen Ereignisses in Russland, Deutschland und dem übrigen Europa. Das Internationale Graduiertenkolleg (IGK) „Kulturtransfer und ‚kulturelle Identität‘ – Deutsch-russische Kontakte im europäischen Kontext“ richtet die Tagung aus. Das Besondere: Das IGK vereint deutsche und russische Doktorandinnen und Doktoranden – färben unterschiedliche kulturelle Mentalitäten und Hintergründe also auf die jeweilige Wahrnehmung der Revolution ab? Hans-Dieter Fronz hat sich mit der Freiburger Doktorandin Anna Sator und dem Moskauer Literaturwissenschaftler Dr. Jurij Lileev zum Gespräch getroffen.

Angeschlagenes Andenken: eine zerstörte Statue von Wladimir Iljitsch Lenin – dem prominentesten Begründer der Sowjetunion.
Foto: photominus21/Fotolia

Frau Sator, Sie sprechen bei der Konferenz zum Thema Geschlecht, Kultur und Revolution in Berta Lasks „Die Befreiung“. Hat der Vortrag einen Bezug zu Ihrer Dissertation?

Anna Sator: Ja. Ich arbeite über Geschlechterkonstruktionen in deutschsprachigen Reiseberichten über die Sowjetunion zwischen 1917 und 1933. Berta Lask ist da eine der Autorinnen, deren Reisebericht ich untersuche.

Anna Sator findet vor allem interessant, welche künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Russischen Revolution es im Nachhinein nicht in den literarischen Kanon geschafft haben.
Foto: Klaus Polkowski

Herr Lileev, Ihr Vortrag hat den Titel „Das Fremde im Vertrauten: Rilkes Wahrnehmung der Russischen Revolution“. Können Sie schon ein wenig vom Inhalt verraten?

Lileev: Ich spreche über die sich wandelnde Wahrnehmung der Russischen Revolution bei Rainer Maria Rilke. 1917 war er für kurze Zeit sehr begeistert und euphorisch, aber diese Stimmung verflog. Er las das Buch einer Tochter von Fjodor Dostojewski, die die Revolution als etwas der russischen Seele sehr Fremdes darstellte. Und er übernahm diese Einschätzung.

Sator: Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in der völkisch-rechten Szene in Deutschland übrigens die diametral entgegengesetzte Sicht. Demnach war die Russische Revolution geradezu eine zwingende Folge der vermeintlichen russischen Seele. Ein Volk mit herrischen Frauen, die schon im Ersten Weltkrieg als Flintenweiber an der Front gefürchtet waren – daraus konnte ja nichts Gutes erwachsen, da war die Anarchie gewissermaßen schon programmiert.

Tiefe Spuren in der Literatur: Selbst Dichter, die eigentlich nicht politisch engagiert waren, machten die Russische Revolution zum Thema ihrer Arbeit, betont Jurij Lileev.
Foto: Klaus Polkowski

Die Konferenz thematisiert die Russische Revolution und die Umwälzungen, die sie bewirkte, stellt zugleich aber auch die Frage nach ihrer Rezeption in Deutschland und in Europa. Ein weites Feld…

Sator: Das stimmt. In Sachen Rezeption finde ich übrigens besonders spannend zu sehen, welche Rezeptionen im Nachhinein verschüttet wurden. Berta Lasks Dramatik zum Beispiel, ihre Agitationsstücke und ihre funktionelle Art von Theater haben es nicht in den literarischen Kanon geschafft. Da gibt es noch viel zu entdecken: Wo und warum gingen diese Rezeptionen verloren, die zu ihrer Zeit das Bild der Russischen Revolution in den Köpfen der Menschen maßgeblich mitgeprägt haben?

Lileev: Die Russische Revolution war übrigens nicht nur ein politisches Ereignis, sondern hat auch im kulturellen Bereich sehr viel Neues angestoßen. So wurde die Avantgardekunst stark von ihr inspiriert. Das beeinflusste auch viele Künstlerinnen und Künstler im Westen. Ich denke da etwa an Wladimir Majakowski oder an Sergej Eisenstein, der in der Filmkunst Maßstäbe setzte.

Sator: Mir fällt das Beispiel der bayerischen Räterepublik ein, die sich klar zur Russischen Revolution positioniert hatte. An ihr waren viele Literatinnen und Literaten beteiligt, die mit ihrem Idealismus versuchten, eine Art Dichter-Räterepublik zu schaffen. Da fanden Transferprozesse von der Kunst in Politik und Gesellschaft und umgekehrt statt – in strikter Relation zur Revolution in Russland.

Könnte man sagen, dass die Kunst und die Kultur dieser Zeit selbst politisch waren?

Lileev: Genau. Selbst von Dichterinnen und Dichtern, die eigentlich nicht politisch engagiert waren, wurde die Russische Revolution zum Thema gemacht, zum Beispiel in dem Poem „Die Zwölf“ des Symbolisten Aleksandr Blok. Das lag sozusagen in der Luft. Zentrales Thema des Kollegs sind Identität und Identitätssuche. Die Russische Revolution war so etwas wie der Gründungsmythos für eine neue Identität, die dann eben auch ästhetisiert wurde.

Sator: Es ging aber nicht nur um die nationale, russische Identität, sondern auch um eine internationale Identität. Es ging um ein neues Menschentum.

Lileev: Und es ist interessant zu sehen, dass sich auch der quasireligiöse Anspruch dieser revolutionären Bewegung nicht nur im Politischen, sondern eben auch auf dem Feld der Ästhetik von allen überkommenen Normen distanzierte, um einen Neuanfang zu setzen. Man denke an Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“. Der Künstler setzte das Bild in einer Ausstellung buchstäblich an die verwaiste Stelle einer Erlöser-Ikone.

Wenn man Sie beide so reden hört, gewinnt man den Eindruck breiter Übereinstimmung. Funktioniert der Wissenstransfer zwischen Ost und West, Russland und Deutschland auch sonst so gut?

Sator: Na ja, in unserem Kolleg auf jeden Fall. Aber es gibt meines Wissens in ganz Europa überhaupt nur zwei Kollegs dieser Art; da ist noch viel Luft nach oben. Umso mehr kann ich als Deutsche vom Austausch mit den russischen Kolleginnen und Kollegen profitieren. Der übrigens auch ein Mentalitätsaustausch ist, weil ich an diese Themen mit einem ganz anderen Background herangehe.

Ist der kulturelle Background für die historische Wahrnehmung maßgeblich? Haben sich zum Beispiel bei Ihnen, Herr Lileev, Prägungen aus der Sowjetzeit in die Zeit nach dem Umbruch hinübergerettet?

Lileev: Selbstverständlich, obwohl die Sowjetzeit und die Revolution auch immer weiter in die Ferne rücken. Heute wird beispielsweise nicht einmal mehr mit einem Feiertag an die Revolution erinnert. Und doch bringt das Revolutionsjubiläum Phänomene hervor wie zum Beispiel eine Installation im Winterpalais in Sankt Petersburg. Da hängen die Parolen der Revolution auf roten Bannern als schöne ästhetische Fassade an der Wand. Es ist überhaupt wieder in, über die Revolution zu sprechen, selbst bei der jüngeren Generation. Es gibt sogar eine App zum Download. „1917 Revolution live“ heißt die. So in der Art eines Social Networks, mit Einträgen, aber auch mit Videos und Informationen zu einzelnen historischen Akteurinnen und Akteuren.

Auch an Sie die Frage, Frau Sator: Haben kulturelle, mentale Unterschiede einen Einfluss auf die Art und Weise, wie jemand geschichtliche Ereignisse beurteil?

Sator: Ich glaube schon. Ich denke, dass man im Westen unbefangener an das Thema Russische Revolution herangeht, weil man einfach nicht so direkt von den Ereignissen betroffen war und ist. Diese Unbefangenheit birgt ein Potenzial, ist aber auch eine Gefahrenquelle für Fehleinschätzungen. Eben deshalb ist es gut und wichtig, mit der russischen Seite im Austausch zu stehen, um das eigene Bild mit ihrem Bild abgleichen zu können.

Russische Kulturtage 2017