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Mehr weibliche und jüngere Stimmen

In einem offenen Brief fordern Forschende im Alter zwischen 25 und 50 Jahren die Politik auf, in der Coronakrise Entscheidungen für die Zukunft zu treffen

Freiburg, 11.05.2020

Mehr weibliche und jüngere Stimmen

Foto: Fiedels/stock.adobe.com

Die dritte Stellungnahme der Leopoldina war mit Spannung erwartet worden – schließlich berät die Nationale Akademie der Wissenschaften die Bundesregierung in der Coronakrise. Als das Papier am 13. April 2020 veröffentlicht wurde, gab es Lob, aber auch Kritik. Die Belange von Eltern seien zu wenig bedacht worden, hieß es da, denn zwar war von einer schrittweisen Öffnung der Schulen die Rede, nicht aber von einer Öffnung der Kitas. War das nicht anders zu erwarten bei einem Expertenrat, dem lediglich zwei Frauen angehören und in dem keiner jünger als 50 Jahre ist? Auch eine Gruppe jüngerer Forscherinnen und Forscher las die Vorschläge genau und schrieb einen offenen Brief, der auf große Resonanz stieß. Die Freiburger Sozialwissenschaftlerin Sina Leipold, Juniorprofessorin für Gesellschaftliche Transformation und Kreislaufwirtschaft, hat den Brief mit initiiert. Annette Hoffmann sprach mit ihr.

Sina Leipold fordert die Bundesregierung sowie die Landesspitzen dazu auf, auch die Expertise jener einzubeziehen, die am stärksten von der Krise betroffen sind.
Foto: Fiedels/stock.adobe.com

Frau Leipold, wie kam der offene Brief zustande, und was wollen Sie damit bewirken?

Sina Leipold: Nachdem die Empfehlungen der Leopoldina veröffentlicht wurden, haben wir, eine Gruppe junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, uns große Sorgen gemacht. Wir hatten den Eindruck, vor allem die Schließung der Schulen und Kitas bis zum Sommer sei sehr kurz gedacht. Die meisten von uns sind in der Wissenschaft tätig, viele von uns haben Kinder zu betreuen und sollen zu hundert Prozent arbeiten. Studien belegen, dass es zu 70 Prozent Frauen sind, die die Kinder betreuen, auch wenn sie gleichzeitig berufstätig sind. Wir befürchten, dass die Krise einen Rückschritt für die Gleichberechtigung bedeuten wird. Hinzu kommt, dass einige von uns in der Nachhaltigkeitsforschung tätig sind und befürchten, dass jetzt wie bereits während der Finanzkrise 2008 Geschäftsmodelle gefördert werden, die schon lange nicht nachhaltig sind – also Modelle, die dazu beigetragen haben, dass ökologische, soziale sowie ökonomische Veränderungen aufgeschoben wurden. Es geht aber darum, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Besteht nicht die Gefahr, dass alte Menschen gegen Kinder ausgespielt werden? Es gibt sehr widersprüchliche Studien darüber, wie ansteckend Kinder sind.

Die Studienlage ist noch relativ dünn. Es gibt Forschende, die sich dafür aussprechen, Kinder in kleinen Gruppen zu betreuen und zu schauen, ob es funktioniert, ganz ähnlich wie jetzt mit Geschäften vorgegangen wird. Die Generationen werden dann gegeneinander ausgespielt, wenn eine Seite den Eindruck hat, dass ihr zu viel auf die Schultern geladen wird. Wenn man die Generationen nicht gegeneinander ausspielen will, muss man sie miteinander in Dialog bringen.

Als Wissenschaftler können Sie lediglich beraten, entscheiden müssen die demokratisch gewählten Politikerinnen und Politiker.

Wir wollen keinen demokratischen Prozess ersetzen, lediglich unsere Expertise aus den verschiedenen Fachbereichen einbringen. Entscheidungen zu treffen ist eindeutig die Sache der Politik.

„Wenn wir nicht in kurzer Zeit eine neue Pandemie riskieren wollen, müssen kommende Maßnahmen an Überlegungen zum Klima- und Umweltschutz geknüpft sein“, sagt Sina Leipold. Foto: Klaus Polkowski

Gerade hat man den Eindruck, dass das Gefühl der Einheit, das in den ersten Wochen des Lockdown zu spüren war, nachlässt. Wie kann man eine Solidarität in der Gesellschaft herstellen?

Die Isolationszeit war entscheidend, um die Infektionsrate zu senken, doch jetzt geht es darum, einen zukunftsweisenden Weg aus dieser Phase zu finden. Dabei geht es darum die zu schützen, die jetzt leben, aber eben auch die, die zukünftig leben werden. Viele Studien zeigen, dass das Aufkommen des Virus eine Folge der Naturzerstörung ist, weil es Wildtieren an Rückzugsräumen fehlt und wir nicht auf ihre Viren und Bakterien vorbereitet sind. Wenn wir nicht in kurzer Zeit eine neue Pandemie riskieren wollen, müssen kommende Maßnahmen an Überlegungen zum Klima- und Umweltschutz geknüpft sein.

Sie arbeiten derzeit zu Hause. Umfragen zeigen, dass viele ganz zufrieden mit dem Homeoffice sind. Aber hat es auch Fallen?

Das Homeoffice hat zum Beispiel für Pendlerinnen und Pendler viele Vorteile. Nur haben viele gerade kein echtes Homeoffice, da sie Kinder zu betreuen haben. Wir wollen keine unbedachte Öffnung; wir haben alle Eltern und Großeltern, die wir schützen wollen. Das Ziel muss sein, nicht schnelle, sondern sinnvolle und ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Als Forschende sind wir grundsätzlich sehr glücklich darüber, dass der Umgang mit der Krise derart wissensbasiert ist. Gleichzeitig ermahnen wir dazu, die Expertise jener zu hören, die von der Krise am stärksten betroffen sind – und das ist die jüngere Generation. Wir fänden es bereichernd, wenn weibliche und jüngere Stimmen gehört werden würden.

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