Europäische Lehre für die nächste Generation
Freiburg, 29.03.2019
Es geht um die Zukunft der Lehre auf dem gesamten Kontinent: Die Europäische Union fordert alle interessierten Hochschulen auf, neue Lernformate im Dialog zu erarbeiten. Bis zum Jahr 2024 sollen Modelle für zwölf „Europäische Universitäten“ entstehen. Gemeinsam mit sieben Partnern hat sich die Albert-Ludwigs-Universität mit dem Konsortium „EPICUR“ beworben. Doch Freiburgs Vision von einer Europäischen Universität reicht weit über Lehre hinaus.
Der Philosoph Epikur ist der Namensgeber für das neue Konsortium EPICUR, das aus acht Universitäten in sechs Ländern besteht.
Fotos: Chriso, Entelechie/stock.adobe.com, Montage: Jürgen Oschwald
Epikur war vielen nicht geheuer. Seinen berühmten antiken Kollegen, die sich kritisch mit seinen Schriften auseinandersetzten, galt der Philosoph als halbseidener Halunke: Eros und Exzess soll er seinen Anhängern Ende des 3. Jahrhunderts vor Christus in Athen gepredigt haben. Die Lust war Epikur zufolge „Ursprung und Ziel des glücklichen Lebens“. Mehr Hedonismus schien kaum möglich. Noch bis ins Mittelalter und in die Frühe Neuzeit hinein galt die Bezeichnung „Epikureer“ – vor allem aus dem Munde von Anhängern der christlichen Lehre – als Schimpfwort für Menschen, die wie Tiere nur den niedersten Instinkten frönten.
Doch die Jahrhunderte sorgten für eine Rehabilitation des Denkers. Inzwischen ist verbürgt, dass Epikurs Lehre von der Lust schlicht missverstanden wurde. Viele sehen in dem Philosophen nun den Wegbereiter der Idee des lebenslangen Lernens. Und einen, der die Gesetzestreue und die guten Sitten hochhielt, seine Schüler nicht zum stundenlangen Schwadronieren, sondern zur Umsetzung kluger Gedanken anhielt.
Entscheidung im Juli
Von so viel Fortschrittlichkeit haben sich die acht Universitäten vermutlich für ihr neues Vorhaben unter dem Namen „EPICUR“ inspirieren lassen: „European Partnership for an Innovative Campus: Unifying Regions“ – kurz EPICUR – heißt das Konsortium, das Ende Februar 2019 eine gemeinsame Bewerbung in der European Universities Initiative in Brüssel eingereicht hat. Bei dem Wettbewerb im Programm „Erasmus+“ der Europäischen Union geht es um nichts weniger als um die Zukunft der universitären Lehre auf dem gesamten Kontinent.
Die EU fordert alle interessierten Hochschulen auf, neue Lernformate im europäischen Dialog zu erarbeiten. Bis zum Jahr 2024 sollen Modelle für zwölf „Europäische Universitäten“ entstehen, in denen die Studierenden vom gemeinsamen Bildungsraum profitieren und nicht von bürokratischen Hürden zurückgehalten werden. Knapp 60 Millionen Euro will die Europäische Kommission unter den ausgewählten Pilotprojekten verteilen. Im Juli 2019 wird die Entscheidung fallen.
270.000 Studierende, sechs Länder
Für EPICUR kooperiert Freiburg mit drei bewährten Partnern aus dem Verbund Eucor – The European Campus: Beteiligt sind die französischen Universitäten Strasbourg und Haute Alsace sowie das Karlsruher Institut für Technologie. Die Universität Basel, die fünfte Hochschule des Verbunds, darf ihren Hut nicht in den Ring werfen, da die Schweiz in einer Ausschreibung des Programms „Erasmus+“ nicht antragsberechtigt ist. Freiburg hat darüber hinaus neue Verbündete aus vier Ländern ins Boot geholt. Die Universität von Amsterdam/Niederlande, die Adam Mickiewicz Universität Poznań/Polen, die Universität für Bodenkultur Wien/Österreich und die Aristoteles Universität Thessaloniki/Griechenland vervollständigen das Konsortium. Sollte der Plan aufgehen, wird es einen virtuellen Campus mit etwa 270.000 Studierenden in sechs Ländern geben.
Durch mehr digitale Lehre, verbunden mit Blockveranstaltungen, sollen möglichst viele Studierende von den Angeboten des neuen Bildungsraums profitieren.
Foto: Thomas Kunz
Mit dem Wettbewerb scheint die EU wie ein Seismograf auf die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre zu reagieren. Einst als Friedensgarant für einen von Krieg zerrütteten Kontinent geschaffen, steht das Projekt Europa zunehmend unter Beschuss: schwächelnde Währung und Wirtschaft, eine Landschaft von disparaten Mitgliedstaaten, Brexit, schlagartig wachsender Populismus. „Doch die Zukunft kann nur ein gemeinsames Europa sein“, sagt Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer, Rektor der Universität Freiburg. Und gemeinsam bedeute: ein virtueller Campus, der eine neue Generation von Europäerinnen und Europäern zusammenbringt: „Wir möchten junge Menschen ausbilden, die über Grenzen, Disziplinen, Kulturen und Sprachen hinweg die großen Herausforderungen, denen sich Europa gegenübersieht, angehen. Europäische Lehre ist die Grundlage für die Stärkung einer europäischen Identität.“
Das Herz schlägt interdisziplinär
Doch was ist die Vision europäischer Lehre, wie EPICUR sie sich vorstellt? Die Bewerbung rückt unter anderem die Liberal Arts and Sciences Education, die digitale Transformation der Lehrformen sowie den Ausbau der Mobilität für Studierende ins Zentrum der Kooperation. Daneben bilden die europäischen Sprachen und die verschiedenen regionalen Netzwerke, in die die Universitäten eingebettet sind, Schwerpunkte der Zusammenarbeit. „Wir möchten, dass alle Studierenden gleichermaßen von EPICUR profitieren“, sagt Dr. Günter Schmidt-Gess, Leiter der Abteilung Lehrentwicklung an der Universität Freiburg.
Das beginne mit der Verständigung. Eine babylonische Sprachverwirrung soll es nicht geben: Die acht Hochschulen wollen eine einheitliche Sprachpolitik erarbeiten, berichtet Schmidt-Gess. Das betreffe wesentliche Grundlagen der Lehre: „Wie soll eine Universität mit Studierenden umgehen, die unterschiedliche Sprachen sprechen? Soll sie Seminare, Vorlesungen und Prüfungsordnungen auf Englisch oder gleich mehrsprachig anbieten?“
Lehrphilosophie für Europa
Internationalität und Teilhabe sollen zum Beispiel auch mit einem alternativen Credit-Point-System gestärkt werden, das Leistungen honoriert, die den Studierenden interkulturelle Kompetenzen vermitteln – etwa eine Fremdsprache lernen, eine Exkursion organisieren oder Austauschstudierende bei sich aufnehmen. „Das ist eine niedrigschwellige Art, Internationalität nachzuweisen. Nicht alle können sich drei Praktika im Ausland leisten.“ Zudem sollen durch mehr digitale Lehre, verbunden mit Blockveranstaltungen, möglichst viele Studierende von den Angeboten des neuen Bildungsraums profitieren – denkbar wären etwa Seminare, an denen Studierende mehrerer Universitäten per Videokonferenz teilnehmen und sich abschließend begegnen.
Das Herzstück von EPICUR sieht Schmidt-Gess allerdings in den Möglichkeiten, die der Studiengang Liberal Arts and Sciences (LAS) bietet. 2012 am University College Freiburg der Albert-Ludwigs-Universität in englischer Sprache gestartet, war der LAS der erste seiner Art in Deutschland. „Nun wollen wir diese Lehrphilosophie, die Studierende auf interdisziplinäre Weise an die großen Themen von Politik, Gesellschaft und Umwelt heranführt, auf eine europäische Ebene heben.“ Als Zukunftsmusik bezeichnet Schmidt-Gess bisher das Ziel, einen LAS-Studiengang an allen acht Partnerhochschulen anzubieten. Doch schon ab 2020 werden interessierte Studierende einzelne Module belegen können, die ihnen abschließend ein „European-Track-Zertifikat“ einbringen – eine Vorbereitung auf den großen Wurf.
Studierende werden ab 2020 die Möglichkeit haben, ein „European-Track-Zertifikat“ zu erhalten. Foto: Patrick Seeger
Im Dreiländereck liegt die Kraft
Die derzeitige Ausschreibung der EU stellt zwar die Lehre in den Mittelpunkt einer Europäischen Universität, doch Freiburg hat ein breiteres Verständnis des Begriffs, betont Rektor Schiewer: „Ein bewährtes Modell für eine Europäische Universität ist für uns der Verbund Eucor – The European Campus, der mit seiner ausgezeichneten Stärke in Forschung, Lehre, Innovation und Transfer die trinationale Wissenschaftsregion am Oberrhein weltweit sichtbar macht.“ Doch der Verbund hat längst noch nicht das gesamte Potenzial ausgeschöpft, das im Dreiländereck steckt – im Gegenteil: Die Universität Freiburg will ihre Vision einer Europäischen Universität weiter ausbauen. „Eucor ist der Stein, den wir ins Wasser geworfen haben, und nun zieht er konzentrische Kreise.“
Die Nähe der fünf deutschen, französischen und schweizerischen Universitäten ist dabei der entscheidende Trumpf. Während EPICUR ein überwiegend digitaler Campus werden soll, ist Eucor bereits jetzt ein physischer, auf dem Forschende gemeinsame Projekte umsetzen und Studierende für Vorlesungen und Seminare von Freiburg nach Basel oder Strasbourg pendeln. In Zukunft soll Eucor seinen Mitgliedern noch mehr bieten: „Wir möchten unsere Vision institutionalisieren und wir haben sie in einer gemeinsamen Strategie verankert“, sagt Dr. Verena Kremling, Leiterin der Abteilung Strategie an der Universität Freiburg. Derzeit wird in einer Studie geprüft, ob eine Großforschungsinfrastruktur für Eucor entstehen könnte. „Eine Art CERN am Oberrhein“, erläutert Kremling.
Kleine Fächer profitieren
Dieses riesige Labor wäre mit modernsten Geräten ausgestattet, die von allen Forschenden des Verbunds genutzt werden könnten. „Orte, die genügend Platz für solch ein Vorhaben bieten und für alle Partner gut erreichbar wären, gibt es entlang des Oberrheins genug. Denken Sie nur an Fessenheim – Atomkraft ist vorbei, unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen Themen der Zukunft.“ Dazu gehören Nachhaltigkeit, Präzisionsmedizin, Quantenphysik und europäische Identitäten. „Diese Themen sind wie Drehkreuze für unsere trinationale Region – sie sind relevant für die Gesellschaft, die Hochschulen, die Industrie und die Politik.“ Auch mehr gemeinsame Studiengänge und erstmals gemeinsame Berufungen soll es mittelfristig im Eucor-Verbund geben. Von Professorinnen und Professoren, die an mehreren Hochschulen lehren, könnten vor allem kleine Fächer wie die Judaistik oder die Afrikaforschung profitieren, sagt Kremling: „Die eine Universität hat mehr Studierende, die sich für ein Fach eingeschrieben haben, die andere verfügt über eine besser ausgestattete Bibliothek – es liegt auf der Hand, dass sie sich so ergänzen können.“
Austausch für Generationen
Auch wenn „Epikureer“ nicht mehr so recht als Kraftausdruck überzeugt, hat der Begriff in einigen berühmten Debatten Eingang gefunden. Martin Luther zum Beispiel benutzte ihn wie ein Schwert, mit dem er seine Gegner in Wortgefechten niederschlagen wollte. Den Papst bezeichnete er als „epikureische Sau“, und die Theologen der belgischen Stadt Löwen nannte er „fette epikureische Schweine“. Die Vokabel warf Luther auch seinem Rivalen Erasmus von Rotterdam an den Kopf.
Beide wollten das Christentum und die Theologie reformieren und nach den Leitgedanken des Humanismus erneuern, doch zerstritten sich über ihre jeweiligen Auslegungen. Erasmus von Rotterdam ließ sich nicht von der Kampfrhetorik ködern. Luthers Interpretation verfälsche Epikurs Lustlehre, entgegnete er und stellte damit seinen wachen Verstand unter Beweis. Nicht umsonst ist der Humanist der Namenspatron für das berühmte Programm der EU, das Studierenden seit Jahrzehnten den Aufenthalt an verschiedenen Universitäten Europas ermöglicht.
Rimma Gerenstein