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Ehrt die Verse, erhebt die Stimme

Das neue Zwetajewa-Zentrum will die russische Kultur in Freiburg präsentieren und stärken

Freiburg, 23.05.2017

Ehrt die Verse, erhebt die Stimme

Foto: Marina-Zwetajewa-Museum Moskau

Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, Sprachkurse und jede Menge Austausch: Das „Zwetajewa-Zentrum für russische Kultur an der Universität Freiburg e.V." wird am 23. Mai 2017 eröffnet. Die Einrichtung will die besondere Beziehung zwischen der Region Freiburg und der russischen Kultur stärken – und setzt der Schriftstellerin Marina Zwetajewa ein Denkmal.

„In mir sind viele Seelen. Doch meine Hauptseele ist eine deutsche": Marina Zwetajewa verehrte das Land der Dichter und Denker. In Freiburg und im Schwarzwald verbrachte sie als Jugendliche eine glückliche Zeit.
Foto: Marina-Zwetajewa-Museum Moskau

„Meinen Versen wird, wie teuren Reben, in der Zukunft einst ein Platz gebührn": Hoffnungsvoll, beschwörend, fast trotzig klingen diese Zeilen. Als Marina Zwetajewa sie im Mai 1913 schreibt, haben weder die damals 21-jährige Dichterin noch das 20. Jahrhundert ihre verheerenden Zäsuren erlitten. Ein Jahr später bricht das Zarenreich auseinander, im Kugelhagel des Ersten Weltkriegs sterben Millionen Menschen, 1917 rufen die Bolschewiken gewaltsam die „Diktatur des Proletariats" aus – und Zwetajewa, Tochter aus reichem, bürgerlichem Hause, wird zur Feindin der sich formierenden Sowjetunion.

Sie flieht nach Berlin, Prag und schließlich nach Paris. 1939 kehrt sie mit ihrer Familie aus der Emigration zurück. Ihr Mann Sergeij Efron wird wegen Spionagevorwürfen erschossen, ihre Tochter Ariadna wird ins Gefängnis gesteckt, Marinas Schwester Anastasia kommt in ein sibirisches Arbeitslager. Als die deutsche Luftwaffe im Sommer 1941 die ersten Bomben über Russland abwirft, wählt Zwetajewa den Tod. Sie hinterlässt einen jugendlichen Sohn. Und ein opulentes Werk aus Gedichten, Briefen, Tagebüchern und Prosastücken.


Marina Zwetajewa stammte aus einem wohlhabenden Haus, in dem die Kultur einen großen Stellenwert einnahm: Ihr Vater Iwan Zwetajew war ein Geisteswissenschaftler von europaweitem Renommee – und Begründer des heutigen Puschkin-Museums in Moskau.
Foto: Marina-Zwetajewa-Museum Moskau

Literatur, Musik und Kunst feiern

Für Elisabeth Cheauré, Professorin für Slavische Philologie und Gender Studies an der Universität Freiburg, verkörpert dieses Werk „den Geist einer europäisch gesinnten Schriftstellerin, die Brücken zwischen Kulturen schlagen wollte und dabei einerseits hochpolitisch wurde und andererseits zutiefst persönlich blieb".

Das neu gegründete Zentrum, das russische Literatur, Musik und Kunst vermitteln, russische Künstlerinnen und Künstler vor Ort unterstützen und eine Plattform für kulturellen Austausch bieten möchte, konnte also nur Zwetajewas Namen tragen: „Zumal sie für die engen Beziehungen zwischen Freiburg und Russland steht", betont die Forscherin, die das Zentrum leitet.

Zwetajewa sprach seit ihrer Kindheit Deutsch, verehrte Goethe und Heine, ging ein Jahr lang mit ihrer Schwester in Freiburg zur Schule und verbrachte einige Zeit im Schwarzwald. Cheauré verweist auf Zwetajewas berühmtes Gedicht „An Deutschland", in dem sich die Schriftstellerin auf verlorenen Posten begab: 1914, als ihre Landsleute vor Hass auf „Germanien" vergingen, solidarisierte sie sich mit dem Land der Dichter und Denker: „Verliebt in dich, solang ich lebe, schwör ich dir ew'gen Treuepakt".

Russischsprachige miteinander ins Gespräch bringen

„Man muss diesen erstaunlichen Mut bewundern, den Zwetajewa aufbrachte", sagt Cheauré. „In einer hasserfüllten Zeit erhob sie ihre Stimme und plädierte für die Kultur als eine Kraft, die alle Völker verbindet." Das Zentrum will dieses Erbe aufrechterhalten: „Gerade in einer politisch angespannten Zeit kann die Wertschätzung der Kultur vor dumpfem Nationalismus schützen." Baden sei eine Bastion für Russischsprachige mit unterschiedlichen Ethnien und Nationalitäten – ob Spätaussiedler aus Kasachstan, Juden aus Litauen, Ukrainer, Weißrussen oder Usbeken: „Sie alle möchten wir miteinander in Kontakt bringen", sagt Cheauré.

Stadt und Universität sind Partner

Das Zwetajewa-Zentrum, das sich in der Stadtstraße 5 befindet, ist eine Kooperation zwischen der Universität und der Stadt Freiburg. Cheauré ist wichtig, dass das Zentrum mit den kulturellen Einrichtungen der Stadt zusammenarbeitet. „Wir wollen einander unterstützen und unsere Ressourcen bündeln." Das Gebäude könnte übrigens zu einer Außenstelle für kulturelle Beziehungen werden: Dort ist ebenfalls das Internationale Graduiertenkolleg der Universität untergebracht, das deutsch-russische Kulturkontakte seit dem 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart erforscht – das einzige seiner Art in Deutschland.

Das Angebot des Zentrums soll nach und nach wachsen. Auf dem Programm stehen Lesungen, Konzerte, Vorträge und Sprachkurse. Und ein Mammutprojekt, das im Herbst starten wird: Im 100. Jubiläumsjahr der Russischen Revolution wird das Zentrum im Oktober und November 2017 sieben Wochen lang beinahe jeden Tag eine Veranstaltung anbieten – von einer Gulag-Ausstellung in der Universitätsbibliothek über Konzerte mit experimenteller Musik der 1920er und 1930er Jahre bis hin zu einem Street-Art-Projekt.

Späte Würdigung

Der „gebührende Platz", den die Dichterin für sich einforderte, kam übrigens spät: Erst in den 1960er Jahren, als die Sowjetunion nach Stalins Tod ein „Tauwetter" erlebte, wurde Marina Zwetajewa rehabilitiert und in den Kanon russischsprachiger Literatur aufgenommen. Ariadna, die einzige Überlebende der Familie, gab die hinterlassenen Werke ihrer Mutter heraus. 1992 wurde in ihrem letzten Wohnhaus in Moskau das Marina-Zwetajewa-Museum eröffnet.

Rimma Gerenstein

 

Zwetajewa-Zentrum

Das „Zwetajewa-Zentrum für russische Kultur an der Universität Freiburg" ist ein gemeinnütziger, unabhängiger Verein, der Ende 2016 gegründet wurde. Träger sind die Albert-Ludwigs-Universität und das Kulturamt der Stadt Freiburg. Das im Herbst 2017 anstehende Projekt zum 100. Jubiläumsjahr der Russischen Revolution wird von der Kulturstiftung des Bundes finanziert. Prof. Dr. Elisabeth Cheauré ist Vorsitzende des Vereins; Rektor Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer ist ihr Stellvertreter.

Zwetajewa-Zentrum für russische Kultur an der Universität Freiburg e.V.