Die Welt durch eine Nietzsche-Sonde
Freiburg, 19.02.2020
Der studierte Philologe und posthum berühmt gewordene Philosoph Friedrich Nietzsche, der mit 44 Jahren dem Wahnsinn verfiel, hätte vergangenes Jahr gleich zwei Gründe zum Feiern gehabt: zum einen seinen 175. Geburtstag, zum anderen das 150. Jubiläum seiner Berufung an die Universität Basel/Schweiz. Noch immer ist das Interesse an Friedrich Nietzsche weltweit groß. Aus diesem Grund hat die Universität Freiburg beschlossen, ein Nietzsche-Forschungszentrum (NFZ) zu gründen. Es ist das erste im deutschsprachigen Raum und bündelt Wissen aus den Fächern Philosophie, Philologie, Theologie, Jura und Medizin.
Das Interesse an dem studierten Philologen und posthum berühmt gewordenen Philosophen Friedrich Nietzsche ist auch 175 Jahre nach seinem Geburtstag weltweit noch immer groß. Foto: Historisches Museum Basel
„Wir wollen Nietzsche als eine Art Sonde benutzen, um die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts zu erforschen“, sagt Prof. Dr. Andreas Urs Sommer. Der Freiburger Philosoph steht dem NFZ als designierter Geschäftsführender Direktor vor. Ziel der Einrichtung ist, das Leben, Werk und Denken Nietzsches abseits der bereits erforschten Pfade näher zu beleuchten. Dafür entsenden zunächst fünf Fakultäten der Universität Freiburg Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ins Forschungszentrum. Von Vorteil ist auch, dass das NFZ innerhalb des oberrheinischen Verbunds Eucor – The European Campus verortet ist. Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften ist institutionell ebenfalls mit dem NFZ verbunden.
Den Wahnsinn hinterfragen
Ein Rätsel, das sich seit dem Ableben des Philosophen noch nicht abschließend klären ließ: Welche Krankheit hatte Nietzsche wirklich? „Diese Frage stellt sich immer wieder und ist in der Tat ein Mysterium“, bestätigt Sommer. Darüber gebe es schon seit Nietzsches Zusammenbruch im Jahr 1889 Diskussionen. „Im Krankenjournal der Klinik, in der er behandelt wurde, heißt es, der Patient habe angegeben, sich ‚einschlägig‘, also syphilitisch infiziert zu haben.“ Die Syphilis-These sei von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche jedoch vehement bestritten worden. „Für sie war klar, dass sich ihr Bruder niemals hätte infizieren können, weil er nie sexuelle Beziehungen mit Frauen, geschweige denn mit Männern eingegangen sei“, erläutert der Freiburger Philosoph. Bisher musste sich die Wissenschaft mit den Symptomanalysen begnügen. Das NFZ jedoch erwägt, in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Fakultät die sterblichen Überreste Nietzsches zu exhumieren und zu untersuchen, um so allen spekulativen Deutungen seines Leidens Einhalt zu gebieten.
Die Büste zeigt den jungen Philosophen – ohne sein Markenzeichen, den charakteristischen Schnurrbart, ist er kaum zu erkennen. Foto: Historisches Museum Basel
Ein weiteres Vorhaben ist eine Forschungskooperation mit den japanischen Universitäten Tokio und Kyoto. „Die Rezeption von Nietzsches Schriften begann in Japan ausgesprochen früh. Bereits in den 1890er Jahren gab es erste Übersetzungen, auch zu Werken, die in Deutschland zunächst wenig Beachtung fanden“, erläutert Sommer. Gleichzeitig sei die Frühzeit der Nietzsche-Rezeption in Japan noch schlecht erforscht. Darüber hinaus ist eine breit angelegte Forschungsinitiative zur Erschließung von Nietzsches Wirkungsgeschichte in Deutschland und Frankreich geplant.
Die Schwester im Fokus
Auch Elisabeth, die Schwester des Denkers, spielt eine zentrale Rolle. Als Nachlassverwalterin bestimmte sie die Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich mit. „Prekär war ihre Bereitschaft, sich den jeweiligen Machthabern anzudienen, das war schon im Kaiserreich so und setzte sich bis zu den Nationalsozialisten fort.“ Dieses Anbiedern an die jeweils Herrschenden hätte ihren Bruder sicher in höchstem Maße irritiert, vermutet Sommer.
„Ist Gott tot?“: Das Magazin „Time“ griff eine von Friedrich Nietzsches bekanntesten Thesen auf. Foto: Historisches Museum Basel
Aktuell versuchen die Wissenschaftler, Nietzsche in den Kontext seiner Zeit zurückzustellen – ein Vorgehen, dem Elisabeth Förster-Nietzsche einst ebenfalls skeptisch gegenübergestanden habe: „Sie wollte, dass ihr Bruder weiterhin als großes Originalgenie gesehen wird, dem niemand das Wasser reichen konnte“, sagt Sommer. Doch diese Behauptung lasse sich inzwischen nicht mehr halten: Nietzsche sei zeitlebens nicht nur von einer Vielzahl von Freundinnen und Freunden, Bekannten und Verwandten umgeben gewesen, sondern habe in einem eigenen Lektürekosmos gelebt. „Dennoch hat er sich als Denker einsam gefühlt, da sein Extremismus wenig Anklang fand. Das Gefühl, unverstanden zu sein, hat den Einsamkeitsmythos befördert.“
Verstärktes Lehrangebot
Die Ergebnisse der Projekte und Kooperationen des NFZ werden alle drei Jahre einer Evaluation seitens der Universitätsleitung und einer internationalen Kommission unterzogen. Auch in die Lehre möchte sich das Zentrum mit einem verstärkten Angebot zum 19. Jahrhundert in Form von Vorlesungen, Seminaren und Workshops einbringen. Einblicke in das Leben und die Gedankenwelt Friedrich Nietzsches bietet bis zum 20. März 2020 eine Ausstellung im Historischen Museum Basel. Die Freiburger Nietzsche-Forschenden waren maßgeblich an der Erarbeitung der Schau sowie an der Begleitpublikation beteiligt.
Judith Burggrabe