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Das große Ganze gewinnt

Seit dem 1. Oktober 2020 führt Kerstin Krieglstein die Universität Freiburg – in einer starken Gemeinschaft sieht die Rektorin die Voraussetzung für Erfolg

Freiburg, 01.10.2020

Wenn Nervenzellen wachsen, folgen sie einem ausgeklügelten Programm: Mit kleinen, filigranen Fingerchen tasten sie sich vorsichtig vor; ihre Umgebung sendet ihnen Signale, ob sie sich in die richtige oder in die falsche Richtung bewegen. Je mehr Nervenfasern diesen Plan befolgen, desto stärker und vielschichtiger wird das neuronale Netzwerk. Für die Hirnforscherin Prof. Dr. Kerstin Krieglstein ist das ein Konzept, das auch auf die Entwicklung der Universität Freiburg übertragbar ist. Schritt eins: Analyse. Schritt zwei: Entscheidung. Schritt drei: Die ganze Mannschaft zieht mit. Mit dieser Vorstellung hat die 57-Jährige zum 1. Oktober 2020 das Amt als Rektorin der Albert-Ludwigs-Universität angetreten. Mit Rimma Gerenstein sprach sie darüber, warum sie die Gemeinschaft stärken will, welche Chancen Freiburg in der nächsten Runde des Exzellenzwettbewerbs hat und welche Rolle den Universitäten im Zeitalter einer globalen Pandemie zukommt.

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Kerstin Krieglstein will die Erneuerungsfähigkeit der Universität Freiburg stärken: „Wir brauchen Mechanismen, die regelmäßig hinterfragen, ob das, was wir machen, ideal für die Ziele ist, die wir erreichen möchten.“ Foto und Video: Jürgen Gocke

Frau Krieglstein, Sie sind zum zweiten Mal zur Rektorin einer Universität gewählt worden. Stand das von Anfang an auf Ihrer beruflichen Bucket List?

Kerstin Krieglstein: Überhaupt nicht. Als ich jung war, hatte ich ohnehin noch wenige Vorstellungen über die berufliche Zukunft. Als Studentin wurde ich in München mal zu einer Absolventenfeier eingeladen. Das Fest war in einem ehrwürdigen Bau, einem richtigen Prunksaal. Alle kamen mir so schick vor – ich hatte den Eindruck, in einem Museum zu sein. In solch einer Umgebung will ich nicht arbeiten, dachte ich mir damals.

Der Prunk in Laboren hält sich ja bekanntlich in Grenzen – Sie entschieden sich für die Forschung. Was hat Sie motiviert, trotz einer erfolgreichen Karriere in der Wissenschaft ins Wissenschaftsmanagement einzusteigen?

Ich glaube, dass alle Forscherinnen und Forscher im Laufe ihrer Karriere der Wunsch nach einfacheren Abläufen und einer besseren Infrastruktur im akademischen Betrieb begleitet. Daraus ergeben sich zwei Optionen: Entweder ich engagiere mich und verändere etwas, oder ich akzeptiere die Bedingungen und höre auf, mich zu ärgern. Ich habe mich während meiner Zeit in Göttingen für den Fakultätsrat aufstellen lassen und wurde auch gewählt. Natürlich ist nichts so einfach, wie es scheint. Ich habe schnell die Zwänge der Gremienarbeit kennengelernt und verstanden, dass der Spielraum gar nicht so groß ist. Mit der Berufung nach Freiburg habe ich damals beschlossen: Lass die Exkurse, und kümmere dich um deine Forschung.

Aber dabei ist es nicht geblieben: Sie wurden zunächst zur Prodekanin für Struktur und Entwicklung der Medizinischen Fakultät und dann zu ihrer ersten hauptamtlichen Dekanin gewählt.

Dabei hat alles mit einem leichtsinnig daher gesagten Ja angefangen. Ich wusste nichts darüber, was eine Prodekanin macht, aber ich dachte mir: Wenn du keine Ahnung hast, kann es doch richtig interessant werden. Irgendwann stand der Struktur- und Entwicklungsplan der Fakultät an, der erste gemeinsame mit dem Universitätsklinikum. Auf einmal konnte ich viel gestalten. Dieses Zusammenspiel von Forschung, Lehre und Krankenversorgung auszutarieren war sehr spannend. Als dann eine neue Dekanin gesucht wurde, sagte man zu mir: „Niemand kennt diese Fakultät so gut wie Sie.“ Damals dachte ich übrigens, dass ich nebenbei auch noch forschen könnte. Das hat sich schnell als Illusion herausgestellt, und ich zog die Konsequenzen: Bevor ich zweitklassige Forschung mache, mache ich lieber einen klaren Cut.

Sie waren nicht lange Rektorin der Exzellenzuniversität Konstanz. Warum wollten Sie an eine Uni wechseln, die zwei Niederlagen erlitten hat?

Die Uni Konstanz ist toll, die Stadt ist schön, der Bodensee ist traumhaft. Aber meine Verbundenheit zu Freiburg ist sehr groß, und als ein entsprechendes Signal kam, habe ich mich leicht ziehen und nicht halten lassen. Und was die Niederlage angeht: Freiburg gehört eindeutig in die Liga der Exzellenzuniversitäten. Ich bin guter Dinge, dass wir in der nächsten Runde des Wettbewerbs überzeugen können.

Braucht Freiburg eine andere Rektorin als Konstanz?

Sagen wir es so: Wenn man die beiden Unis vergleicht, fallen viele Unterschiede auf. Auf der einen Seite steht eine alte Traditionsuniversität, die über die ganze Stadt verteilt ist, auf der anderen eine junge Reformuniversität, die sich einen gemeinsamen Campus teilt. Konstanz wurde mit dem Leitsatz gegründet, dass man als Gemeinschaft Großes erreichen kann. Natürlich kommt man ohne helle Köpfe auch im Team nicht voran, aber die Strukturen sind so angelegt, dass alle von einer Sache profitieren. Da kann sich keiner ein Gerät ins Labor stellen und die anderen nicht damit arbeiten lassen. Man muss immer wieder beweisen, dass sich eine Methode oder ein Ansatz für viele andere lohnen und nicht nur einem Forschenden zum Vorteil gereichen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten vor allem über die Fachdisziplinen hinweg miteinander, auch in ungewöhnlichen Settings. Man braucht sehr originelle Forschungsfragen, denn die Uni ist viel kleiner, man findet nicht so einfach 20 passende Kolleginnen und Kollegen für ein Verbundprojekt. Ich denke, das läuft in Freiburg nach anderen Routinen.

Was meinen Sie damit?

Die Forschenden und Lehrenden sind eher in ihren Instituten und Fakultäten verortet. Die Uni Freiburg hat 185 Gebäude, die über die ganze Stadt verteilt sind. Es entstehen also viele autarke Strukturen, und diese hemmen oft die Kollaboration, die gemeinsame Anstrengung als Community. Ich will die Mentalität verändern, die Bereitschaft zur Gemeinschaft fördern und damit auch die originellen Ideen für Verbundforschung. Die Zahlen sprechen ja eine eindeutige Sprache: Freiburg ist in allen Rankings vorne und gehört immer zu den besten Unis in Deutschland.

Nach Ihrer Wahl haben Sie gesagt, dass Sie die Erneuerungsfähigkeit der Universität stärken möchten. Wie wollen Sie das erreichen?

Die Erneuerungsfähigkeit ist die zentrale Vorgabe des Exzellenzwettbewerbs. Wir brauchen Mechanismen, die regelmäßig hinterfragen, ob das, was wir machen, ideal für die Ziele ist, die wir erreichen möchten. Wir haben ja nicht unendlich viele finanzielle Ressourcen wie noch vor 40 oder 50 Jahren. Wenn wir Plan A probieren und feststellen, er bringt uns nicht ans Ziel, dann müssen wir ihn durch Plan B ersetzen. Und wenn das nicht funktioniert, dann brauchen wir noch bessere Ideen. Ich muss da an mein Fach, die Neurowissenschaft, denken: Wenn Nervenzellen wachsen, müssen sie fühlen, ob sie sich in die richtige Richtung bewegen. Sie haben kleine Finger, mit denen sie abtasten, ob aus einer Ecke positive oder negative Signale kommen. Links oder rechts, in welche Richtung müssen wir abbiegen? Wenn die Entscheidung gefallen ist, richtet sich die ganze Mannschaft der Nervenzellen danach aus und zieht mit. Im Prinzip erwarten die Gutachterinnen und Gutachter im Exzellenzwettbewerb diese Art der Selbstanalyse auch von den Universitäten.

Das ist eine klare Ansage. Begreifen Sie so Ihre Aufgabe als Rektorin?

Bei der Verabschiedung in Konstanz hieß es unisono: „Frau Krieglstein, Sie sind durch klare Ansagen aufgefallen.“ Das hat mich ziemlich amüsiert. Die Frage ist, was man darunter versteht. Die Aufgabe einer Rektorin oder eines Rektors ist, die Universität nach innen und nach außen zu vertreten. Dazu gehört für mich auch, sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, und zwar beim Aufbau von Strukturen, die die Gemeinschaft stärken. Ich mache meine Entscheidungen nicht von einzelnen Personen abhängig, sondern davon, was für die gesamte Community am besten ist. Dafür werde ich immer einstehen, und daran werde ich mich auch messen lassen.

Gleichzeitig haben Sie betont, dass Sie großen Wert auf Partizipation legen. Wie geht das mit den klaren Ansagen überein?

Ich denke viel über universitäre Entwicklung nach, und mir fallen immer wieder Ideen ein, was man besser machen könnte. Aber es bringt nichts, die Leute zu bevormunden. Wichtig ist für mich, unterschiedliche Gruppen immer wieder zu fragen: Seid ihr zufrieden? Was könnte man verbessern? Und wie kommen wir konkret dorthin? Ich will einen Raum schaffen, in dem die Beteiligten durch Argumente und Gegenargumente gemeinsam bessere oder passendere Lösungen für den Standort Freiburg erarbeiten – und sie dann auch umsetzen. Diesen Prozess darf man nicht mit „Ansagen“ überstimmen.

Manchmal kommen auch unvorhersehbare Ereignisse dazwischen: Eine große Zäsur für Forschung und Lehre war die Corona-Pandemie, die im vergangenen Sommersemester die Hochschulen lahmlegte.

Das stimmt, die Pandemie hat uns alle mit großen Entbehrungen konfrontiert, und sie ist noch längst nicht überstanden. Die Infektionszahlen steigen nun wieder täglich, ganze Regionen oder Länder werden wieder zu Risikogebieten erklärt. Die Universität Freiburg wollte im Wintersemester mehr Präsenzlehre anbieten, doch das werden wir prüfen müssen. Unser oberstes Ziel ist, die Mitglieder der Universität zu schützen. Glücklicherweise haben nun viele Lehrende und Studierende einige Erfahrungen mit Fernlehre gesammelt. Das macht es einfacher, wenn auch nicht ideal. Aber inmitten dieser Pandemie habe ich auch etwas Großartiges beobachtet: Die Universitäten haben bewiesen, wie resilient sie sind und welchen wichtigen Dienst sie für unsere Gesellschaft leisten. Forscherinnen und Forscher haben sich sehr schnell über Länder- und Disziplingrenzen hinweg vernetzt und ihr Wissen geteilt, um Lösungen zu erarbeiten, von denen alle profitieren können.

Sehen Sie darin die Aufgabe einer Universität im 21. Jahrhundert?

Eine Universität wird immer eine Bildungseinrichtung bleiben, die mehr als nur Daten, Fakten und Methoden vermittelt. Hier regieren Neugier und Entdeckungswille, und hier scheuen wir uns nicht, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Mir fällt zum Beispiel ein Mathematiker aus Konstanz ein, der Algorithmen entwickelt, mit denen sich die Versorgung von Stadtteilen mit nachhaltiger Energie optimieren lässt. Ich sehe die Universität als wichtige Impulsgeberin für die Gesellschaft, gerade auch dann, wenn sich Wissenschaftsfeindlichkeit und „alternative Fakten“ breitmachen. Ohne die Universitäten finden wir keine Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft, sei es im Umgang mit dem Klimawandel, der künstlichen Intelligenz oder mit Pandemien.

Zum Schluss noch eine Frage: Was denken Sie, wenn Sie den Begriff „Work-Life-Balance“ hören?

Das ist witzig, ich habe gerade ein Buch gelesen, in dem es genau um dieses Thema ging: „Das Café am Rande der Welt“ von John Strelecky. Da geht es um einen Mann, der fürchterlich dauergestresst und überarbeitet ist und so langsam ins Grübeln kommt. Er fragt sich, welchen Sinn sein Leben hat, ob er sich eigentlich damit beschäftigt, was ihn wirklich glücklich macht. Diese Frage kenne ich natürlich. Für mich bedeutet Work-Life-Balance, dass ich mit mir und meinem Leben im Reinen bin, dass ich mich im Beruf und zu Hause wohlfühle. Ich verspüre glücklicherweise eine innere Zufriedenheit in beiden Bereichen. Dann kann die Arbeitszeit oder das Wochenende mal länger oder kürzer sein, das spielt dann keine Rolle.

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