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Hörproben von untergegangenen Tönen

In einem Seminar rekonstruieren Studierende der Musikwissenschaft die Gesänge der Freiburger Kartause

Freiburg, 02.01.2020

Bibelstellen in lateinischer Sprache und ein mittelalterliches Notationssystem waren die Grundlage für ein musikwissenschaftliches Seminar, in dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Musik aus der Vergangenheit wieder zum Leben erweckten. Unter der Leitung von Dr. Stefan Häussler untersuchten Studierende die Handschriften zu den Gesängen der Mönche des früheren Kartäuserordens. In einer Ausstellung präsentieren sie Hörproben zu ihren Ergebnissen.


Wie sich die mittelalterlichen Werke damals anhörten, ist ungewiss. Die Gesänge lassen sich heute nur nachempfinden. Foto: Goffkein/stock.adobe.com

Die Musik der Freiburger Kartause ist bereits vor langer Zeit verklungen. Obwohl einige Handschriften mit Musiknotationen erhalten sind, lässt sich nicht genau sagen, wie sich die mittelalterlichen Werke damals anhörten. Sie lassen sich heute nur nachempfinden. Besucherinnen und Besucher der Ausstellung „Musik in der Kartause“ können in der Universitätsbibliothek Freiburg in einige Beispiele hineinhören. „Es sind Annäherungen“, sagt Dr. Stefan Häussler. Das heißt: Die Hörproben sind mehr musikalische Interpretation als umfassend gesicherte Rekonstruktion, denn es gibt doch zu viele Ungewissheiten.

Ohne Takt und Tempo

Der an der Albert-Ludwigs-Universität lehrende Musikwissenschaftler, der auch Mitglied des Freiburger Ensemble SurPlus ist, hat im vergangenen Sommersemester ein Seminar über die Kartäusergesänge angeboten. Die gemeinsame Arbeit mit acht Studierenden mündete in eine Ausstellung, die mit Plakattafeln, Hörproben und eine Vitrine mit Literatur und Filmen Einblicke in eine untergegangene Welt vermittelt.

Dass es heute keine Garantie dafür gibt, wie die Gesänge wirklich klangen, habe mit dem mittelalterlichen Notationssystem zu tun, erklärt Häussler. Es sei zwar die Grundlage für das fünflinige Notensystem und weise viele Parallelen dazu auf, doch unter anderem seien Takt und Tempo nicht vermerkt. Forscherinnen und Forscher vermuten, dass es einen engen Bezug zwischen dem Melodievortrag und den Gesangstexten gab. Die Texte waren lateinisch und bis auf wenige Ausnahmen Bibelstellen. „Die lateinische Sprache hat dafür gesorgt, dass gewisse sprachliche Grundlagen über mehr als tausend Jahre erhalten blieben und den Vortrag immer wieder neu prägen konnten“, sagt Häussler und erzählt, dass im Seminar erst die Noten transkribiert werden mussten, um den Gesang für die Hörproben aufnehmen zu können.


Bibelstellen in lateinischer Sprache: Es gab bei der Musik des Kartäuserordens eine enge Verbindung zwischen dem Melodievortrag und den Gesangstexten. Quelle: Psalterium - Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Hs. 64, [Freiburg], [1366/1405 & vor 1405]

Überschneidung zwischen Kloster und Universität

Dass sich heute Zeugnisse des Kartäuserordens, insbesondere seines Musiklebens, in der Universitätsbibliothek finden, führt auf die engen Verbindungen zwischen Kloster und Universität zurück. Dafür steht eine Person wie Gregor Reisch, der um 1500 erst an der Universität lehrte und dann Prior des Klosters wurde. „Ein wesentlicher Teil der damals entstandenen Handschriften gehört heute zum Bestand der Universitätsbibliothek“, sagt Häussler. Dies war eine Grundvoraussetzung, um die Musik der Kartause im Seminar zu erforschen. „Durch die Digitalisierung der Quellen hat die Freiburger Universitätsbibliothek viel dazu beigetragen, dass diese Schätze sichtbar geworden sind.“

Das Thema des Seminars vereint zwei große Interessensgebiete des Musikwissenschaftlers: zum einen die Musikgeschichte Freiburgs, zum anderen die Handschriften, die ein Zeugnis der Musik der Vergangenheit sind. „Man kann Studierende nicht ohne Weiteres für die Welt des Mittelalters begeistern, man muss sie dafür gewinnen“, sagt Häussler. „Es war eine Herausforderung, die Lehrveranstaltung so anzulegen, dass ich auf die unterschiedlichen Voraussetzungen eingehen konnte.“ Durch die Ausstellung sei zudem viel Organisatorisches hinzugekommen. Häussler verteilte die Themen früh, gearbeitet wurde sowohl einzeln als auch in Gruppen. Für die Texte der Ausstellung zeichnen mehrere Autorinnen und Autoren verantwortlich. Die Beiträge mussten anschließend lektoriert und in ein Layout gebracht, Bilder mussten besorgt, die Schautafeln aufgehängt und die Vitrine eingerichtet werden.


Im mittelalterlichen Notationssystem sind Takt und Tempo nicht vermerkt. Deshalb ist nicht bekannt, wie die Gesänge wirklich klangen. Quelle: Graduale - Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., Hs. 95, [[s. l.], [1405-1417]]

Strenge Ordnung in den Quellen

Tatsächlich sind die Anforderungen bei einem solchen Thema über das rein musikalische Fachwissen hinaus nicht gerade klein. Lateinkenntnisse sind dabei ebenso von Nutzen wie die historischen Hilfswissenschaften und ein Gespür für die Bedeutung, die Regeln für das Leben der Menschen im Mittelalter hatten. Die damalige fest etablierte Gesellschaftsordnung wurde durch die besondere Strenge des Kartäuserordens noch verstärkt. Der Tagesablauf der Kartäuser vollzieht sich im Schweigen, frei geredet wird praktisch nur auf den sonntäglichen Spaziergängen der Mönche. Was die Musik in einer solchen Gemeinschaft bedeuten kann, lässt sich daher kaum überschätzen. Die strenge Ordnung spiegelt sich auch in den Handschriften wider. Die Gesänge strukturierten den Tagesablauf und waren an das Kirchenjahr gebunden. Wann sie aufgeführt wurden, ist in den Handschriften ebenso vermerkt wie Details des Vortragstils, etwa wann der Sänger die Kapuze abnimmt oder aufsetzt.

Die Frage nach der Mehrstimmigkeit

Was einst in der Freiburger Kartause erklang, ist repräsentativ für den gesamten Orden. Es sind einstimmige Gesänge, obwohl das ausgehende Mittelalter aus der Perspektive der Musikgeschichte durch die Mehrstimmigkeit geprägt war. Häussler wundert dieser scheinbare Widerspruch nicht: Es gebe zwar zunächst vergleichsweise wenige Quellen für Mehrstimmigkeit, dann aber seien es so markante wie etwa jene der Notre-Dame-Schule, nach denen eine ganze Musikgeschichtsepoche benannt wurde. Und tatsächlich ist nicht ausgeschlossen, dass etliche Gesänge einstimmig notiert, aber mehrstimmig ausgeführt wurden – da seien durchaus Übergänge vorstellbar, sagt Häussler, der 2013 mit einer Arbeit über Mehrstimmigkeit im 11. Jahrhundert an der Albert-Ludwigs-Universität promoviert wurde.


In einer Ausstellung gaben die Studierenden durch Plakattafeln und Hörproben Einblicke in die untergegangene Musikwelt der Freiburger Kartause. Foto: Yuefeng Xu

Musik gab den Takt des Lebens vor

Wenn man von den Musikhandschriften der Freiburger Kartause spricht, meint man vor allem jene, die für den liturgischen Gebrauch bestimmt waren, und klammert andere, die die Mönche zum Studieren in ihre Zellen mitnahmen, zunächst aus. Prächtige Handschriften sind nicht überliefert. Obgleich Häussler nicht in Abrede stellen mag, dass es solche Exemplare gegeben haben könnte, war die Ausführung der wie Bücher gebundenen Manuskripte im Allgemeinen eher bescheiden und wenig repräsentativ. Das könne, müsse aber nicht mit dem asketischen Charakter des Ordens zusammenhängen, sagt Häussler und verweist auf die Tatsache, dass es durchaus aufwendig gestaltete Initialen und bildlichen Schmuck in den Pergamenthandschriften gibt, etwa ein Bild des Saiteninstruments von König David – und dies, obwohl Instrumente in der Kartause nicht verwendet werden durften.

Aus heutiger Sicht paradox wirkt, dass die liturgischen Handschriften zwar eine feste Rolle im Alltag der klösterlichen Gemeinschaft spielten, dass aus ihnen selbst aber nicht gesungen wurde. Forscher gehen davon aus, dass die Gesänge auswendig gelernt und die Handschriften zur Vor- und Nachbereitung genutzt wurden, wofür vermutlich eigens bestimmte Mönche als eine Art „Wochenkantor“ ausgewählt wurden. Die Musik als solche gab dem Leben der Mönche den Takt vor: Manche Gesänge wurden täglich gesungen, andere jede Woche, wieder andere nur zu bestimmten Perioden wie der Fastenzeit.  „Es ist mir auch darum gegangen, die Fremdheit der Lebensentwürfe und das mit ihnen verbundene faszinierende Ineinander von Musik und Körper hervorzuheben“, betont Häussler. So eingeschränkt die Musik wirke, so habe sie doch eine ganze Fülle religiösen Erlebens in sich aufgenommen und erfülle den Menschen als Ganzes.

Annette Hoffmann