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Wo sich Mensch und Igel gute Nacht sagen

Mit wilden Nachbarn lebt es sich nicht immer friedlich – Fanny Betge will das Verständnis für den richtigen Umgang mit Wildtieren schärfen

Freiburg, 15.04.2020

Wo sich Mensch und Igel gute Nacht sagen

Foto: Anna-Lena Hendel

Viele Verstecke, ausreichend Nahrung und kaum Feinde: Städte und Gemeinden bieten anpassungsfähigen Wildtieren ideale Rückzugs- und Lebensbedingungen. Im Projekt „Wildtiere im Siedlungsraum Baden-Württembergs“ arbeitet Fanny Betge an einer Handreichung für erfolgreiches Wildtiermanagement. Anlässlich des 50. Jubiläums der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen (UNR) stellt eine Serie verschiedene Forschungsprojekte und Fachbereiche vor. Der zweite Teil – „Tier“ – widmet sich der Frage, wie sich in der Bevölkerung mehr Verständnis für einen richtigen Umgang mit Wildtieren wecken lässt.

Igel gehören schon zum gewohnten Bild: Menschen und Wildtiere treffen in Siedlungsräumen häufig aufeinander. Foto: Anna-Lena Hendel

Wildschweine im Blumenbeet, Füchse auf dem Spielplatz: Menschen und Wildtiere treffen in Siedlungsräumen häufig aufeinander. Welche Tiere in den Städten und Gemeinden Baden-Württembergs leben, wann es zu Konflikten kommt und wie in diesen Fällen verfahren wird, erforscht Fanny Betge, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Wildtierökologie und Wildtiermanagement, gemeinsam mit ihrer Kollegin Geva Peerenboom. Seit 2010 laufen die Arbeiten unter dem Dach des Projekts „Wildtiere im Siedlungsraum Baden-Württembergs“, das vom Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz aus Geldern der Landesjagdabgabe finanziert wird. Bis 2017 haben Betge und Peerenboom mit Forschenden der Professur für Forst- und Umweltpolitik an der UNR-Fakultät zusammengearbeitet, seit 2017 kooperieren sie mit dem schweizerischen Verein StadtNatur.

„Wir erwarten, dass die günstigen Lebensbedingungen vor Ort zu mehr Wildtieren in Siedlungsräumen führen und die Kontakt- und Konfliktsituationen zunehmen“, erklärt Betge. „Daher haben wir anhand des Landkreises Waldshut und des Stadtkreises Freiburg einen Leitfaden für Wildtiermanagement im Siedlungsraum erstellt und Onlineportale geschaffen, mit denen wir die Bevölkerung über den richtigen Umgang mit Wildtieren informieren. Im Sinne von Citizen Science beziehen wir diese aktiv in unsere Arbeit mit ein.“

Eine Datenbasis schaffen

Zu Beginn stand das Team vor der Herausforderung, Informationen zusammentragen und Verantwortlichkeiten klären zu müssen. Denn landesweit wurden Wildtiere in Siedlungsräumen weder systematisch erfasst, noch war klar, an wen sich die Öffentlichkeit bei Fragen oder Konflikten wenden kann. „Wir haben unter anderem Mitarbeitende kommunaler Verwaltungen sowie Personen aus Jagd und Tierschutz befragt und auf Basis ihrer Antworten einen Onlinefragebogen für Verwaltungsangestellte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Feuerwehr, Polizei sowie von Forst- und Veterinärämtern erstellt, da sie diesbezüglich häufig kontaktiert werden“, sagt Betge, die seit 2015 Teil des Projekts ist. Der Projektplan sah zudem vor, Print- und Onlinemedien auf Informationen und Berichte über Wildtiere zu untersuchen und Fallstudien zu erstellen, für die das Team auch mit Expertinnen und Experten zum Thema Wildtiermanagement in anderen deutschen und schweizerischen Städten sprach. Ferner veranstalteten sie mehrere Workshops und luden Ansprechpartnerinnen und -partner aus der Praxis ein, um mit ihnen an Lösungsstrategien für Konfliktsituationen zu arbeiten. Eine Telefonbefragung von Bürgerinnen und Bürgern stellte sicher, dass auch deren Sicht in die Forschung einfloss.

Diese ergab: Je weiter Wildtiere in das Umfeld der Menschen vordringen, umso kritischer beurteilen diese die Begegnung. „Spannungen entstehen zum einen wegen wirtschaftlicher Schäden, etwa zerbissener Kabel im Auto, zum anderen aufgrund der Sorge vor übertragbaren Krankheiten, wie dem Fuchsbandwurm“, erklärt Betge und benennt die strukturellen Probleme: „Die Mehrheit weiß nicht, wie sie sich im Konfliktfall verhalten soll und findet häufig nicht direkt einen Ansprechpartner, wenn ein Waschbär auf dem Dachboden sein Unwesen treibt.“

Informationen aus der Bevölkerung: Interessierte können über eine Website und App Fotos von gesichteten Tieren hochladen. Foto: Anna-Lena Hendel

Wissen teilen – online und gedruckt

Diese Lücke schließt das Projekt mit dem Webportal Wildtiere in der Stadt. Neben Kontaktdaten der Wildtierbeauftragten des Landes Baden-Württemberg finden Interessierte hier seit 2016 Wissenswertes zum Lebensraum Stadt sowie Steckbriefe von häufig in Siedlungsgebieten vorkommenden Säugetieren, Vögeln, Reptilien und Amphibien – darunter Biber, Habicht und Ringelnatter. Auf Basis der Forschungsergebnisse aus dem Landkreis Waldshut und dem Stadtkreis Freiburg hat das Team je einen Leitfaden für Wildtiermanagement entworfen. In diesem klären die Forschenden zum Beispiel über die rechtliche Situation auf, nennen Ansprechpartner und geben Tipps, wie Wildtiere bestmöglich von Grundstücken ferngehalten werden können. Dazu zählen: Hausmüll erst am Abfuhrtag rausstellen, Komposthaufen geschlossen halten, Zäune tief eingraben und Tiere nicht anfüttern. „Zudem haben wir Ablaufschemata entwickelt, die erklären, wie beim Auffinden eines verletzten Wildtieres vorgegangen werden sollte“, sagt Betge.

Dass die Handlungsempfehlungen landesweit viel Beachtung finden, zeige die wichtige Bedeutung des Themas. Gleichzeitig betont die Freiburger Forscherin: „Da die Zuständigkeiten regional individuell geregelt sind, lassen sich die von uns beschriebenen Vorgehen nicht eins-zu-eins auf andere Landkreise übertragen. Unsere Leitfäden können aber als Orientierung dienen.“ Sie fließen zusammen mit den übrigen Forschungsergebnissen in das Handbuch zum Wildtiermanagement im Siedlungsraum ein, das – als anwendungsorientierter Abschlussbericht des Projekts – allen Gemeinden und Landkreisen Baden-Württembergs zur Verfügung gestellt wird.

„Wilde Nachbarn“ digital erfassen

Obwohl viele Wildtiere in Siedlungsräumen leben, habe die Bevölkerung den Zugang zu ihnen verloren, sagt Betge. Um das Verständnis für die Tiere zu verbessern, ging 2018 die Webseite Wilde Nachbarn Baden-Württemberg online. Die Idee dahinter ist: Wer ein Wildtier sieht, kann es fotografieren und das Bild auf der Plattform hochzuladen – entweder über die Webseite direkt oder die dazugehörige App. Bis Mitte März 2020 sind mehr als 800 Beiträge eingegangen, überwiegend von Füchsen, Vögeln, Wasservögeln, Igeln, Eichhörnchen und Rehen. „Wildtiere halten sich häufig auf Privatgrund auf“, erklärt Betge. „In diesen Fällen sind wir für unsere Arbeit auf die Informationen von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Außerdem konnten wir dank dieser Unterstützung wesentlich mehr Daten über eine größere Fläche und einen längeren Zeitraum sammeln als es uns alleine möglich gewesen wäre.“

Kristin Schwarz

 

Wildtiere in der Stadt

Wilde Nachbarn Baden-Württemberg

Flyer „Wilde Tiere in der Stadt – Konflikte und Lösungsansätze“

 

Weitere Texte aus der Serie:

Vulkan aus dem Labor