„Wir alle könnten zu Verdächtigen werden"
Freiburg, 07.06.2017
Ein Tatort, irgendwo in Deutschland. Die Polizei nimmt ihre Arbeit auf: Wer hat etwas gesehen, wer hat etwas gehört, wer könnte den entscheidenden Tipp geben? Doch mit den Menschen ist das so eine Sache. Selbst wenn sie die Wahrheit zu erzählen meinen, ist auf ihre Wahrnehmung kein Verlass. War es nun ein großer oder mittelgroßer Mann? Welche Hautfarbe hatte er? Und waren seine Haare hell oder dunkel? Es scheint, als wären DNA-Spuren die einzigen zuverlässigen Zeugen – aber welche Informationen lassen sich tatsächlich aus ihnen ableiten und welche nicht?
Anna und Veronika Lipphardt organisieren das Symposium „Erweiterte DNA-Analysen in der Forensik: Möglichkeiten, Herausforderungen, Risiken" am Freiburg Institute for Advanced Studies.
Foto: Klaus Polkowski
Drei aktuelle Gesetzesinitiativen wollen die Einsatzmöglichkeiten von DNA-Analysen in kriminalpolizeilichen Ermittlungen massiv ausdehnen. Neu wäre vor allem eine erweiterte Untersuchung, die Aussagen über die Augen-, Haar- und Hautfarbe sowie über die so genannte biogeografische Herkunft zulassen würde. Dabei würden allerdings die Möglichkeiten dieses Instruments überschätzt, die Risiken dagegen deutlich unterbewertet, betonen Prof. Dr. Anna Lipphardt, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, und Prof. Dr. Veronika Lipphardt, University College Freiburg. Gemeinsam mit einer fächerübergreifenden Gruppe veranstalten sie im Juni 2017 das Symposium „Erweiterte DNA-Analysen in der Forensik: Möglichkeiten, Herausforderungen, Risiken" an der Universität Freiburg. Rimma Gerenstein hat die beiden Forscherinnen gefragt, warum sie die Gesetzesentwürfe als höchst problematisch einstufen und unter welchen Bedingungen die Technologien zum Einsatz kommen sollten.
Beim Symposium treffen sich Expertinnen und Experten unter anderem aus der Bioethik, der Wissenschaftsforschung, den Sozialwissenschaften, der Genetik, der Statistik, der Rechtswissenschaft und der Forensik, um über erweiterte DNA-Analysen zu diskutieren – zum ersten Mal in Deutschland. Warum braucht es diesen Austausch?
Veronika Lipphardt: Die Debatte über die Erweiterung von DNA-Analysen wird in Deutschland zu einseitig geführt. Wir wollen sie auf breitere Füße stellen. Bisher werden fast nur Experten aus der Forensik und den Ermittlungsbehörden zu den Gesetzesentwürfen angehört – dabei repräsentieren sie nicht den gesamten Sachverstand, den es für diese so komplexe wie sensible Thematik braucht. Würde man zum Beispiel Experten aus der Populationsgenetik und Humangenetik dazu befragen, würden sie ganz andere Einsichten eröffnen, etwa zur biogeografischen Herkunft.
Anna Lipphardt: Wir haben bei unserer eigenen Arbeit gemerkt, wie wichtig der Austausch unterschiedlicher Disziplinen bei solch einem komplexen Thema ist – und je mehr Fachrichtungen in unserer Initiativgruppe hinzukamen, desto differenzierter wurden unsere Analysen. Immer wieder hieß es: „Moment mal, das passt aus meiner Sicht so nicht", „Das kann ich aus meiner Perspektive nur unterstreichen", „Vorsicht, das verzerrt die Ergebnisse aus meiner Blickrichtung". Unsere Gruppe ist die erste in Deutschland, der aufgefallen ist, dass es in den Gesetzesentwürfen und in den öffentlichen Äußerungen der befürwortenden Politikerinnen und Politiker gravierende wissenschaftliche Fehler gibt. Das ist auf jeden Fall alarmierend.
Welche Fehler sind das?
Veronika Lipphardt: Nehmen wir zum Beispiel die Wahrscheinlichkeiten. Derzeit heißt es, dass eine DNA-Analyse mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent korrekt zwischen einem hellen und einem dunklen Hautton unterscheiden könne. Das stimmt aber für den Anwendungsfall nicht ohne weiteres, weil man auch immer berücksichtigen muss, wie die Merkmale helle und dunkle Hautpigmentierung in der jeweiligen Bevölkerung verteilt sind. Es kann sonst zu falschen Ergebnissen kommen, den „false positives", die die Ermittlerinnen und Ermittler auf eine völlig falsche Fährte locken. Dieses statistische Argument, Mediziner nennen es „prevalence adjustment", scheint den Forensikern und Ermittlern in Deutschland nicht bekannt zu sein – zumindest ergibt sich dieser Eindruck aus unseren Gesprächserfahrungen. Wir dürfen die Politiker doch nicht auf solchen Grundlagen entscheiden lassen.
Was befürchten Sie?
Anna Lipphardt: Diese statistische Schwäche der Methode greift vor allem dann, wenn der Test auf seltene Merkmale hinweist, und macht solche Ergebnisse unzuverlässig. Gleichzeitig scheinen solche Ergebnisse den Ermittlern besonders zielführend, denn eine Minderheit ist ja leichter einzugrenzen als eine Mehrheit. Es steht also zu befürchten, dass die Polizei in der Folge solcher Testergebnisse besonders häufig und oftmals unberechtigterweise Minderheiten in den Fokus nimmt. Aber auch das Gesetz zur Angleichung des genetischen an den daktyloskopischen Fingerabdruck wird auf jeden Fall weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen haben – und zwar nicht nur für die Täterinnen und Täter. Wir alle könnten zu Verdächtigen werden.
Wie das?
Anna Lipphardt: Das Gesetz ermöglicht den Ermittlern, bei allen Verbrechensarten ohne Richtervorbehalt DNA-Daten zu erheben und zu speichern. Aber an einem Tatort werden ja nicht nur DNA-Spuren von Schuldigen gefunden, sondern auch von unschuldigen Personen, zum Beispiel von Ihnen und von mir, weil wir uns zufällig an einem bestimmten Ort aufgehalten haben. Bei Reihenuntersuchungen würden ebenfalls DNA-Daten von vielen Menschen erhoben. Diese Informationen können datenschutzrechtlich mindestens so heikel sein wie Handy- oder Überwachungsdaten.
Was passiert dann mit diesen Daten? Werden sie gespeichert? Wenn ja, wie lange?
Von wem werden sie verwaltet, und unter welchen Voraussetzungen werden sie an wen weitergegeben? Das ist bisher völlig unklar und auch das größte Problem an dieser Debatte: Die Gesetzesentwürfe bedenken nicht, wie man mit den juristischen, ethischen sowie persönlichkeits- und datenschutzrechtlichen Folgen umgehen könnte.
Veronika Lipphardt: Nach dem derzeitigen Stand würde das ein Alles-ist-erlaubt-Gesetz, bei dem die Ermittler sehr weitreichende Befugnisse erhalten und kaum von unabhängigen Instanzen kontrolliert werden. Deswegen ist es so wichtig, dass sich Experten in die Debatte einmischen, die sich für die Interessen von überproportional betroffenen Gruppen – meistens von Minderheiten – einsetzen, auf die sich die Ermittlungen zu Unrecht fokussieren würden.
Ein Paradebeispiel für den gescheiterten Einsatz dieser Technologie bietet der Fall des „Heilbronner Phantoms", zu dem Anna Lipphardt seit Längerem forscht. Die DNA-basierte Fahndung nach der Mörderin oder dem Mörder der Polizistin Michèle Kiesewetter führte die Polizei lange Zeit auf eine falsche Fährte.
Anna Lipphardt: Richtig. Die Polizei vertraute auf das Laborergebnis zur „biogeografischen Herkunft", das auf eine Frau aus „Osteuropa" hindeutete. Erstellt wurde das DNA-Gutachten in Österreich, wo das seinerzeit bereits erlaubt war. Kombiniert mit weiteren Indizien – etwa mit der Tatsache, dass dieselbe DNA an weiteren unzähligen Tatorten, auch in Freiburg, auftauchte –, vermutete die Heilbronner Polizei, dass es sich um eine Frau aus einer Roma-Familie handeln müsste. Die Polizei hat dann DNA-Reihenuntersuchungen von Hunderten von Frauen veranlasst, die meisten davon waren Roma. Wir wissen bis heute nicht, was mit diesen Daten im Detail passiert ist. Es wurde zwei Jahre lang in diese Richtung ermittelt, ohne dass es einen hörbaren Widerstand aus dem Polizeiwesen oder der Justiz gegeben hätte. Das ist erschreckend. Dieser Fall zeigt eine sehr starke und unkritische Technikgläubigkeit. Die Ermittler ließen alle anderen Fährten fallen, zum Beispiel auch die Spur, die in die rechte Szene in Heilbronn und zum NSU führte, zu den eigentlichen Tätern. Dabei sollte die erweiterte DNA-Analyse eigentlich immer nur als Ultima Ratio zum Einsatz kommen, wenn alle anderen Ermittlungsansätze ausgeschöpft sind.
Gibt es Staaten, in denen die erweiterte DNA-Analyse gut geregelt ist?
Veronika Lipphardt: Wir orientieren uns zum Beispiel an England oder an den Niederlanden, in denen solche Untersuchungen gesetzlich bereits zugelassen sind. Der entscheidende Unterschied jedoch ist, dass es dort umsichtige und zum Teil auch strenge Regulierungen gibt. Eine Kommission, in der Experten aus allen relevanten Gebieten vertreten sind, entscheidet in jedem einzelnen Fall darüber, ob solch eine Untersuchung gestattet wird. Das geschieht nicht leichtfertig, und die erweiterten DNA-Analysen kommen nicht häufig zum Einsatz. Die deutschen Gesetzesentwürfe sehen bisher nichts in dieser Richtung vor.
Stellungnahme der Initiativen zu den drei Gesetzesentwürfen
Das Symposium „Erweiterte DNA-Analysen in der Forensik: Möglichkeiten, Herausforderungen, Risiken" findet am 9. und 10. Juni 2017 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) der Albert-Ludwigs-Universität statt. Vertreterinnen und Vertreter der Medien sind herzlich eingeladen.
Pressemitteilung
Website der Initiative zur kritischen Auseinandersetzung mit forensischer DNA-Analyse
(mit Link zur Symposiums-Website)