Wenn Lehrkräfte erklären
Freiburg, 19.05.2020
„Die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind durchaus in der Lage, gut zu erklären. Viele tun es im Schulkontext trotzdem nicht“, erzählt die Bildungswissenschaftlerin Dr. Mona Weinhuber. Sie untersucht, wie Lehrer Mathematik erklären. Die amerikanische Society for Experimental Psychology and Cognitive Science zeichnet die angehende Lehrerin als beste Nachwuchswissenschaftlerin 2019 in der Fachdisziplin Psychologie aus. Sie erhält den Early Career Award für einen Fachartikel, den sie mit der Forschungsgruppe um Prof. Dr. Matthias Nückles, Psychologe und Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Freiburg, veröffentlicht hat.
Selbst erfahrenen Lehrkräften kann es passieren, dass sie ihren Mathematikunterricht unbewusst anders gestalten, als sie eigentlich wollen – Ergebnisse der Bildungsforschung können helfen, dem entgegenzuwirken. Foto: Robert Kneschke/stock.adobe.com
Was macht gute Erklärungen aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich Matthias Nückles‘ Arbeitsgruppe seit vielen Jahren. So zeigen Schülerinnen und Schüler deutlich höheren Lernerfolg und bessere Transferleistungen, wenn Lehrer ihnen nur die mathematischen Prinzipien hinter einer Aufgabe erklären, als wenn sie ihnen die einzelnen Schritte des Lösungsweges beibringen. Hinter diesen beiden Erklärungsarten verbergen sich zwei Denkweisen, so genannte Mindsets. Diese sind verbunden mit unterschiedlichen Arten, sich mit Mathematik auseinanderzusetzen, erklärt Weinhuber: „In der Universitätsmathematik steht die Argumentation im Vordergrund, in der Schule das Lösen von Aufgaben.“
Warum die Art des Unterrichts kippt
Für die meisten Mathelehrer ist das Argumentations-Mindset zentral. „Dennoch – und obwohl der prinzipienorientierte Unterricht zu einem tieferen Verständnis führt – wechseln sie an der Schule schnell zum Anleitungs-Mindset“, so Nückles: „Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Lehrer in manchen Situationen entgegen ihrer Absichten handeln.“ Mathelehrer streben oft eigentlich einen Unterricht an, in dem Schüler argumentieren und unterschiedliche Lösungsansätze diskutieren sollen. „Im Verlauf der Stunde passiert aber immer das gleiche: Die Art des Unterrichts kippt, so dass es nur noch darum geht, die Lösung zu finden“, beschreibt Nückles.
Schüler diskutieren mögliche Lösungswege des Problems, um zum richtigen Ergebnis zu kommen – und lernen so, die mathematischen Prinzipien hinter einer Aufgabe zu verstehen.
Quelle: https://doi.org/10.1037/xap0000227, Grafik: Anja Mey
Wie das mit Mindsets zusammenhängt, untersuchte Weinhuber in der honorierten Studie. Sie aktivierte gezielt die verinnerlichten Mindsets bei Mathelehrern, sodass deren Erklärungen anschließend mehr oder weniger lernförderlich ausfielen. Zuerst ließ sie die Lehrer in einer scheinbar unabhängigen Vorstudie Unterrichtssituationen in Comics bewerten, die bei ihnen unbewusst ein bestimmtes Mindset aktivierten. Die Comics zeigen eine Schulklasse, die Aufgaben zur Kurvendiskussion löst. Einige Lehrer bekamen Comics, in denen die Schüler die Rechenaufgabe nach einer Anleitung Schritt für Schritt bearbeiten, andere bekamen Comics, in der die Schüler mögliche Lösungswege des Problems diskutieren, um zum richtigen Ergebnis zu kommen. Anschließend erhielten die Lehrer eine Extremwertaufgabe mit Nebenbedingungen, in der es darum ging, die Fläche eines Torbogens zu berechnen. Sie hatten 20 Minuten Zeit, um für ihre Schüler eine Erklärung zu schreiben, damit diese die Aufgabe lösen können. „Dieses komplexe mathematische Problem fällt auch Lehrern nicht leicht. Sie brauchen viel Konzentration, sodass sie sich nicht bewusst darüber werden, ob sie prinzipienorientiert oder schrittweise erklären“, betont Weinhuber.
Comics aktivieren Mindsets
Die Erklärungen der Lehrer unterscheiden sich – je nachdem, welchen Comic sie vorher lasen. Wurden darin Matheaufgaben nach Anleitung gelöst, neigten auch die Lehrer dazu, in ihren Erklärungen auf den genauen Rechenablauf abzuzielen. Wurden hingegen Lösungswege diskutiert, fokussierten die Lehrer stärker auf das Verständnis der Gründe für die einzelnen Schritte. Weinhubers Ergebnisse zeigen, dass aktivierte Mindsets Mathelehrer dazu bringen können, bei ihren Erklärungen nur die Schritte zur Lösung eines Problems zu beschreiben, ohne die dahinterliegenden mathematischen Prinzipien zu beleuchten. Sie machen auch deutlich, wie leicht ein kleiner situativer Hinweis diese Mindsets aktivieren kann, ohne dass die Lehrer es merken.
Schüler bearbeiten eine Rechenaufgabe nach einer Anleitung Schritt für Schritt – doch wenn der Mathematikunterricht diesem Prinzip folgt, fällt der Lernerfolg vergleichsweise gering aus. Quelle: https://doi.org/10.1037/xap0000227, Grafik: Anja Mey
Wenn bereits ein einzelner Comic ausreicht, um die Erklärungen geübter Lehrer so grundlegend zu beeinflussen – umso stärker ist wohl der Einfluss durch die soziale Interaktion, wie sie täglich im Klassenraum während des Matheunterrichts üblich ist. „Lehrer verfügen über beide Mindsets“, erläutert Weinhuber: „Der situative Kontext in der Schule stößt aber meist das Anleitungs-Mindset an.“ Bei Schülern ist dieses Mindset möglicherweise stark verankert, sodass sie oft einfach nur die Lösungsschritte erfahren wollen. „Lehrer kapitulieren dann schnell, lassen sich unbemerkt von den Schülern leiten – und hören auf, Mathematikunterricht argumentativ zu gestalten“, führt Nückles aus. Durch das Anleitungs-Mindset richten die Lehrer ihre Erklärungen unbewusst auf das Vorgehen aus anstatt auf die Prinzipien. Dadurch erzeugen sie bei ihren Schülern wiederum Erwartungen an solche schrittweisen Erklärungen.
Das Preiskomitee wählte Weinhubers Fachartikel einstimmig unter den für den Early Career Award nominierten Forschungsarbeiten aus. Diese Vorschläge beinhalteten die herausragenden Arbeiten des Jahres 2019 aus fünf Fachzeitschriften. Die Society for Experimental Psychology and Cognitive Science verleiht diese Auszeichnung an aussichtsreiche, junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in einem frühen Karrierestadium. Weinhuber soll den Preis im August 2020 beim Treffen der American Psychological Association in Washington, DC/USA überreicht bekommen.
Die Lehre verbessern
Wie kann dieses Ergebnis Lehrern nun helfen, ihren Unterricht aufzuwerten? „Sie müssen sich bewusst machen: Die Schulkultur regt unbewusste Prozesse und Mindsets an“, rät Weinhuber. Mit diesem Wissen können Lehrer während der Vorbereitung und im Unterricht gezielt ihre Mindsets aktivieren und die Lehre verbessern. „Denn wir haben gesehen: Schon wenn man ein Mindset nur kurz und unbewusst anstößt, überträgt sich das auf andere Aufgaben“, fasst Weinhuber zusammen. Die Ergebnisse fließen bereits in die Lehrerbildung und in Informationsbroschüren an Schulen ein. Auch Weiterbildungen können Lehrer sensibilisieren. „Unterrichtsvideos sind dafür ein zentraler Ansatz: Über ihren eigenen Unterricht kommt man mit den Lehrern ins Gespräch“, schlägt Nückles vor: „So kann man Diskrepanzen zwischen Stundenplanung und Umsetzung erkennen – und auch, ob die Lehrer vielleicht anders handeln, als sie wollen, ohne dass ihnen das bewusst ist.“
Sarah Schwarzkopf