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Viele Sprachen, viele Vorteile

Die Linguistin Helga Kotthoff erklärt, wie Mehrsprachigkeit Menschen bereichert

Freiburg, 21.03.2017

Viele Sprachen, viele Vorteile

Foto: jovannig/Fotolia.com

Bei der Konferenz „Mehrsprachigkeit in Gesellschaft, Politik und Bildung“ trafen sich internationale Expertinnen und Experten der Sprachlehre und des Fremdspracherwerbs an der Universität Freiburg, um über aktuelle Konzepte zur Mehrsprachigkeit, der interkulturellen Kommunikation, der Integrationspolitik in verschiedenen Ländern und des lebenslangen Lernens zu diskutieren. Sonja Seidel hat mit Helga Kotthoff, Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg und Mitorganisatorin der Konferenz, über die Chancen im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit in Deutschland gesprochen.


„Die Schulpolitik hat die Vorteile von Türkisch sprechenden Kindern in den Klassen bisher ignoriert“, sagt Helga Kotthoff, Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg. Foto: Thomas Kunz

Frau Kotthoff, welche Vorteile sehen Sie darin, wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen?

Helga Kotthoff: Mehrsprachige Kinder werden nicht nur in Deutschland immer mehr zum Normalfall. Das bringt den großen Vorteil, dass die Neugier der anderen Kinder und der Erwachsenen wächst, selbst Sprachen zu lernen. Es gibt wissenschaftliche Befunde dazu, dass in Großstädten deutsche Kinder und Jugendliche zum Beispiel von ihren Freundinnen und Freunden nebenbei Türkisch lernen und dabei teilweise eine beachtliche Sprachkompetenz entwickeln. Doch das sieht die Gesellschaft meist nicht. Wir haben das Problem, dass Sprachen ein unterschiedliches Ansehen genießen, und das Türkische hat kein so hohes wie die Schulsprachen. Die Schulpolitik hat die Vorteile von Türkisch sprechenden Kindern in den Klassen bisher ignoriert. Stattdessen schicken Eltern ihre deutschen Kinder in Kindergärten, in denen deutsche Erzieherinnen und Erzieher ihnen Chinesisch beibringen sollen.

Das soll ihnen wohl einen besseren Start im Leben verschaffen, genau wie den Kindern, die bereits im Grundschulalter Englisch lernen.

Sie können alle möglichen Sprachen lernen, wenn das in alltäglichen Situationen auf natürliche Art stattfindet. Ihnen englische Märchen vorzuspielen, ist allerdings Unsinn. In der Wissenschaftssprache haben wir den Fall, dass das Englische das Deutsche tatsächlich verdrängt. Das wird bei uns bisher kaum diskutiert, müsste aber mehr zum Politikum werden. Wir ziehen uns in den Naturwissenschaften Studierende heran, die nur noch auf Englisch über ihr Fach reden können. Das macht die Wissenschaft auf lange Sicht zu einem noch höheren Elfenbeinturm. In Skandinavien beispielweise wird dieses Problem viel mehr thematisiert. Viele Lehrende sagen dort, dass es mittlerweile in den Naturwissenschaften die Schwierigkeit gibt, Schulbücher auf Schwedisch oder Norwegisch zu verfassen, da die gesamte Forschung zu den naturwissenschaftlichen Themen auf Englisch stattfindet. Es gebe zum Beispiel in der Genetik die norwegische Terminologie gar nicht mehr. Dieses Problem werden wir im deutschen Sprachraum auch bald haben.


Sprachen lernen auf dem Schulhof: Deutsche Kinder und Jugendliche lernen von ihren Freundinnen und Freunden beim Spielen beispielsweise Türkisch.
Foto: jovannig/Fotolia.com

Welche Empfehlungen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit würden Sie also an Politik und Gesellschaft aussprechen?

Migrationssprachen und bilinguale Kompetenzen – beispielsweise Deutsch mit Russisch, Türkisch oder Arabisch – sollten ernster genommen und mehr wertgeschätzt werden. Die Behauptung, dass Mehrsprachigkeit auf Kosten des Deutschen gehe, ist einfach Unsinn, ebenso die Empfehlung einiger politischer Parteien, dass Migrantenfamilien zu Hause nur Deutsch sprechen sollten. Diese Entscheidung muss man ihnen selbst überlassen. Warum sollen Eltern eine Sprache mit ihren Kindern sprechen, die sie nicht vollständig beherrschen? Dabei können sie keine emotionalen Nuancen kommunizieren, und das ist im Kontakt mit Kindern wichtig. Der Spracherwerb des Deutschen funktioniert bei diesen Kindern völlig spielerisch und nebenbei, sobald sie den Kindergarten besuchen. Wenn sie die Sprachen vermischen, ist das auch kein Problem. Forschende haben festgestellt, dass Bilinguale für unterschiedliche Themen oft unterschiedliche Sprachen nutzen. Das Deutsche wird zum Beispiel häufig bei Themen des Alltags und der Institutionen verwendet und die Herkunftssprache, wenn sich die Kinder zum Beispiel Witze erzählen, die sie zu Hause auf Italienisch oder Portugiesisch gehört haben. Es gibt viele Gründe für Sprachenwechsel im Gespräch.

Sie forschen unter anderem zum Verhältnis von Komik und Migration. Welche Funktion hat Humor dabei?

Das Komische bildet sozusagen einen schützenden Rahmen um alles, was Migrantinnen und Migranten als fremd wahrnehmen. Unsere Kultur ist beispielsweise sehr konsumorientiert; das wirkt auf Menschen aus anderen Ländern zunächst befremdlich und kann zu Minderwertigkeitskomplexen führen. Da kann es befreiend wirken, darüber zu scherzen, dass man hier morgens eine andere Zahnpasta benutzt als abends. Die Komik ist ein Modus, der einem dabei hilft, mit seinem Anderssein selbstbewusst umzugehen. Sie beugt der Scham vor. Statt sich für sein Anderssein zu schämen, entscheidet man sich dafür, das Fremde und das Eigene komisch zu überspitzen und sich über die Eigenheiten der Kulturen lustig zu machen. Man befremdet das Eigene und das Fremde, setzt beides auf Distanz.

Helga Kotthoffs Website an der Universität Freiburg