Sternstunden des russischen Fußballs
Freiburg, 06.06.2018
Für viele Menschen gilt Russland nicht als klassisches Fußballland. Das sei ein Trugschluss, sagt Dr. Peter Kaiser von der Abteilung für Neuere und Osteuropäische Geschichte der Universität Freiburg: Die Sportart habe im Gastgeberland der diesjährigen Weltmeisterschaft eine lange Tradition. Von der aktuellen Mannschaft erwarte man zwar keine großen Erfolge - trotzdem sei die Veranstaltung für die russischen Fußballfans sehr wichtig, erklärt der Historiker im Gespräch mit Annette Kollefrath-Persch.
Die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland beginnt am 14. Juni 2018. Foto: Csaba Peterdi/Fotolia
Herr Kaiser, in wenigen Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. Deutsche Fans fiebern bereits darauf hin. Wie sieht das im Gastgeberland aus?
Peter Kaiser: Die russischen Fußballfans freuen sich schon seit Jahren auf diese Veranstaltung, bereits seit dem Tag, als bekannt wurde, dass die Weltmeisterschaft zum ersten Mal in ihrem Land stattfinden wird. Selbstverständlich ist die Vorfreude auch mit der Frage verknüpft, wie gut die eigene Mannschaft ist.
Ist Fußball in der russischen Gesellschaft als Sportart verankert?
Ja, auch wenn man Russland nicht als Fußballland wahrnimmt, weil es zum Beispiel in Eishockey und anderen olympischen Sportarten stärker präsent ist. Aber Fußball hat in Russland eine lange Geschichte, die bis weit vor die Revolution von 1917 reicht. Und spätestens seit den 1930er Jahren war Fußball die Sportart Nummer eins, zwar nicht als Breitensport, aber als Massenereignis.
Was sind die Sternstunden in der Historie des russischen oder sowjetischen Fußballs?
Absolute Sternstunde waren die 1960er Jahre: 1956 gewann die Nationalmannschaft völlig überraschend das olympische Turnier in Melbourne/Australien, ab da ging die Siegesserie über ein ganzes Jahrzehnt. 1960 wurde Russland der erste Europameister, 1964 errang das Team den Vizeeuropameistertitel, und 1966 erreichte man bei der Weltmeisterschaft in England den vierten Platz. Danach blieben die Erfolge weitgehend aus. 1972 wurde man zwar noch einmal Vize-Europameister, aber das war das letzte Aufflackern der „glorreichen Generation“ der 1960er Jahre.
Steht das russische Nationalteam bei dieser Weltmeisterschaft besonders unter Druck?
Ja, Druck gibt es natürlich. Man möchte sich nicht blamieren. Aber die russischen Fans sind realistisch genug, um zu wissen, dass sich die Mannschaft gerade in einem Umbruch befindet. Niemand erwartet von ihr Wundertaten. Doch vor allem wünscht man sich, dass die Mannschaft gute Spiele abliefert. Man muss aber auch dazu sagen, dass dieser Druck von Seiten der Fans, aber nicht von der großen Politik kommt. Diese Zeiten sind vorbei.
Wie jede andere Nation hat auch Russland den Anspruch, sich bei einer Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land von der Schokoladenseite zu zeigen, sagt der Historiker Peter Kaiser. Foto: Ingeborg Lehmann
Warum hat Russland beziehungsweise die frühere Sowjetunion bisher noch nie eine Weltmeisterschaft ausrichten wollen?
Zum einen gab es immer wieder das Problem, dass sich die damaligen sowjetischen Sportfunktionäre nicht mit der FIFA, dem Internationalen Verband, verstanden haben. Zum anderen gab es einen wichtigen ideologischen Grund: Im Kommunismus erhob man beinahe automatisch den Anspruch, der kapitalistischen bürgerlichen Welt grundsätzlich in allen Belangen überlegen zu sein. Aber gerade im Fußball wusste die sowjetische Parteispitze genau, dass die eigene Mannschaft es nicht wirklich schaffen kann, die heimische Weltmeisterschaft zu gewinnen. Diese Blöße wollten sich die Offiziellen nicht geben. Außerdem scheute man hohe Investitionskosten in den Ausbau der Infrastruktur. Und man darf nicht vergessen, dass die Sowjetunion ein nach außen hin weitgehend abgeschotteter Überwachungsstaat war, man fürchtete die vielen Tausend „kapitalistischen Ausländer“, die ins Land hineinströmen würden und die man nicht lückenlos überwachen könnte.
Welche politische Dimension hat die Weltmeisterschaft für Präsident Wladimir Putin?
Für Putin ist es nicht so wichtig, ob die russische Mannschaft gewinnt oder verliert. Es geht ihm darum, ein bestimmtes Bild von Russland nach außen zu transportieren und zu zeigen, dass man es geschafft hat, nach den Olympischen Winterspielen eine weitere riesige Veranstaltung auf die Beine zu stellen. Als ein weiterer Beweis der Rückkehr zu „alter Größe“ ist das natürlich wichtig. Da spielt es keine Rolle, welche Probleme es beim Bau der Stadien gab oder wieviel Geld verschleudert wurde. Das wird sicherlich im Nachgang aufgearbeitet. Aber schließlich hat jede Nation den Anspruch, sich bei so einer Veranstaltung von ihrer Schokoladenseite zu präsentieren.
Bei Fußballspielen kommt es auch zu unschönen Szenen: Bei der Europameisterschaft 2016 fielen Fußballanhänger aus Russland durch ihre Brutalität auf.
Diese Vorfälle wurden in Russland sehr negativ wahrgenommen. Man sagt, die Hooligans hätten das Bild von Russland in der Welt beschädigt, und das wolle man auch im eigenen Land nicht haben. Es gibt deshalb vielfältige Maßnahmen gegen Hooligans, die Polizei wird im Vorfeld sicherlich hart durchgreifen. Es wird vermutlich dennoch zu Gewalt kommen, wenn abseits des Geschehens gewaltbereite Hooligans verschiedener Länder aufeinandertreffen. Ich gehe aber davon aus, dass wir in den Stadien zu 99 Prozent geordnete Verhältnisse erleben werden.
Wer sind Ihre Lieblingsspieler in der russischen Fußballhistorie?
Das ist ganz klar Torwart Lew Jaschin: Er ist in meinen Augen ein Genie gewesen, so einen Spieler wird es kein zweites Mal geben. Er war Teil des legendären Teams der 1960er Jahre und die prägende Figur dieser Generation. Ich finde auch Oleg Blochin toll, ein ukrainischer Stürmer, der in den 1980er Jahren für die Sowjetunion gespielt hat. Viele russische Fans denken übrigens auch so, egal, wie die zeitgenössische politische Entwicklung ist.
Was erwarten Sie von der Weltmeisterschaft – sportlich und gesellschaftlich?
Ich bin realistisch: Im Achtelfinale wird für die russische Mannschaft Schluss sein. Aber ich liege in dem Fall gerne falsch. Sportlich wird es insgesamt spannend und interessant werden. Ich hoffe, dass die gesamte Veranstaltung zu einer Sternstunde werden wird – nicht für die russische Politik, sondern für die ganz normalen Fans.