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Polizei, Notarzt, Müllabfuhr

Mikrogliazellen sind die Heinzelmännchen des Gehirns – Forscher entschlüsseln ihre wichtige Rolle für die Gesundheit

Freiburg, 31.03.2017

Polizei, Notarzt, Müllabfuhr

Illustration: Svenja Kirsch

Mikrogliazellen erfüllen wichtige Aufgaben bei fast allen Erkrankungen und Störungen im Gehirn, aber auch bei seinem Aufbau und seiner Instandhaltung. Sie sind zugleich Bauleitung, Polizei, Pflegedienst, Notarzt und Müllabfuhr. Ein internationales Team will die Eigenschaften dieser Zellen erkunden.


Mikrogliazellen sind sofort zur Stelle, um einen Schaden in den neuronalen Netzwerken zu beheben. Marco Prinz bezeichnet sie als „Immunsystem des Gehirns“.
Illustration: Svenja Kirsch

Achtung: Durch Ihr Hirn tastet sich gerade etwas. Es sind die Ärmchen von Mikrogliazellen, die das Gehirn unter sich in Reviere aufteilen. Jede Mikrogliazelle wacht über ein kleines Reich von Nervenzellen. Mit dünnen Armen, die sich verlängern und verkürzen lassen, durchstöbern die Wächterzellen ständig die neuronalen Netzwerke ihrer Reviere. Klappt die Kommunikation? Sind die Zellen gut drauf? Wenn sich eine Infektion ausbreitet oder etwas anderes nicht stimmt, schreiten die Wächterzellen ein.

„Sie bilden das Immunsystem des Gehirns“, erklärt Prof. Dr. Marco Prinz, Ärztlicher Direktor des Instituts für Neuropathologie am Universitätsklinikum Freiburg. Prinz ist Sprecher des neuen, überregionalen Sonderforschungsbereichs (SFB) „NeuroMac“. Unter Freiburger Federführung wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Eigenschaften der Mikrogliazellen erkunden. Die erfüllen wichtige Aufgaben bei fast allen Erkrankungen und Störungen im Gehirn, aber auch bei seinem Aufbau und seiner Instandhaltung. Sie sind zugleich Bauleitung, Polizei, Pflegedienst, Notarzt und Müllabfuhr.

Den Appetit auf Alzheimer ankurbeln

„In gesunden Gehirnen füttern Mikrogliazellen sogar ihre Zellen“, erzählt Prinz. Alles soll tipptopp laufen im Revier. Dazu ist manchmal mehr nötig als das Ausfahren von Ärmchen: Bei dramatischen Ereignissen marschiert die ganze Zelle los und teilt sich. Am Unglücksort versammelt sich ein Trupp einheitlicher Wächterzellen. Sie verspeisen Erreger, fressen absterbende Zellteile und Eiweiße, die durch Blutungen ins Gehirn gelangen, bei Multipler Sklerose und anderen entzündlichen Prozessen entstehen oder sich als Plaques ablagern wie bei Alzheimer. Leider sind Mikrogliazellen nicht unersättlich. Nach ein paar Wochen erlahmt ihr Appetit auf Alzheimer und Co.

„Die Zellen sind erschöpft und gealtert“, erklärt Prinz. Um ihren Bestand aufzufrischen, tauscht er versuchsweise das Knochenmark aus, aus dem Mikrogliazellen hervorgehen können. Der 46-jährige Mediziner vermutet, dass junge Mikrogliazellen weit mehr Alzheimer-Ablagerungen verputzen als ältere und Betroffene womöglich heilen können. Doch er dämpft allzu große Hoffnungen: „Noch ist das eine therapeutische Vision.“

Speiseplan spielt wichtige Rolle

Im erwachsenen Gehirn koordinieren Mikrogliazellen Umbauarbeiten, im embryonalen die Entwicklung. Sie treiben junge Nervenzellen dazu an, funktionelle Netzwerke zu bilden. Fehler im Aufbau des Gehirns führen möglicherweise zu Erkrankungen wie Autismus und Schizophrenie. Ein Versagen der Bauleitung? „Wir kennen die Ursache nicht“, bedauert Prinz. Doch schwere Virusinfektionen in der Schwangerschaft erhöhen das Risiko für diese Entwicklungserkrankungen – und verändern Form und Funktion der Mikrogliazellen. Bei Mäusen ohne Darmflora zum Beispiel sind sie größer und sehen deformiert aus. Die Tiere verhalten sich teils auffällig.


Marco Prinz ist Sprecher des neuen, überregionalen Sonderforschungsbereichs.
Foto: Privat

Prinz ist überzeugt, dass die Ernährung etwa für das Risiko, an Autismus oder Alzheimer zu erkranken, eine Rolle spielt. Denn der Speiseplan beeinflusst, aus welchen Bakterien sich die Darmflora zusammensetzt. „Wir ersetzen einzelne Bakterienstämme und schauen, was passiert“, sagt der SFB-Sprecher. Er möchte herausfinden, welche Arten gut sind, welche schlecht und welche Signale Darmbakterien zum Gehirn schicken. Aktuell testen Forscherinnen und Forscher verschiedene bakterielle Produkte auf ihre Eignung als potenzielle Botenmoleküle.

4,9 Millionen für Freiburg

Viele spannende Befunde, reichlich offene Fragen: Einen Teil davon soll der SFB/Transregio 167 „Entwicklung, Funktion und Potenzial von myeloiden Zellen im zentralen Nervensystem“ (NeuroMac) beantworten. Neben Freiburger Fachleuten aus mehreren Instituten der Universität und des Universitätsklinikums untersuchen Berliner Forscher an der Charité und am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin sowie Wissenschaftler am israelischen Weizmann Institute of Science in Rehovot die Eigenschaften von Mikrogliazellen.

Die Fördersumme beträgt knapp 10,9 Millionen Euro für die Jahre 2017 bis 2020. Davon entfallen etwa 4,9 Millionen auf den Standort Freiburg. Fernziel ist die Entwicklung neuer Therapien beispielsweise für Alzheimer, Schlaganfall, Depressionen und Multiple Sklerose. Marco Prinz bremst auch hier übertriebene Erwartungen: „Ich wäre schon glücklich, wenn wir einen konkreten Behandlungsansatz bekämen.“

Jürgen Schickinger