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Neuorientierung in der Erzählforschung

Monika Fludernik erklärt ihre Forschung im Reinhart Koselleck-Projekt „Narratologie diachron“

Freiburg, 13.03.2023

Prof. Dr. Monika Fludernik vom Englischen Seminar der Universität Freiburg will in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt „Narratologie diachron“ das bisher gängige Erzählmodell erweitern: An die Stelle einer traditionellen synchronen, also auf einen Zeitebene konzentrierten Ausrichtung, setzt es eine diachrone und somit epochenübergreifende Analyse. Die bisherige Erzählforschung in der Tradition des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette ist in ihrem Kern eine synchrone Disziplin mit dem Anspruch auf Universalität ihrer Kategorien wie beispielsweise des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit oder der Erzählperspektive, der so genannten Fokalisation. Dagegen begründet Fluderniks Projekt eine Narratologie, die nicht nur die Erkenntnisse historischer Untersuchungen in das gängige Modell einbringt, sondern zusätzlich die Kontinuitäten und Form- sowie Funktionswechsel im Wandel der Erzählformen ab dem Spätmittelalter analysiert und theoretisch reflektiert.

Schwarzer Text auf weißer SeiteEin Projekt in der Anglistik begründet eine Narratologie, die Kontinuitäten und Form- sowie Funktionswechsel im Wandel der Erzählformen ab dem Spätmittelalter analysiert. Foto: fidelio/Adobe Stock

Die Erzählforschung hat eine starke deutschsprachige Tradition, die mit dem Namen Franz Karl Stanzel (1923-), Emeritus der Karl-Franzens-Universität Graz, assoziiert wird. In jüngerer Zeit haben sich in Deutschland auch besonders Ansgar Nünning (ehemals Köln, jetzt Gießen) und seine Schüler*innen, sowie das Hamburger Interdisciplinary Center for Narratology und das Wuppertaler Zentrum für Erzählforschung hervor getan, die mit dem Slavisten Wolf Schmid (Autor der Elemente der Narratologie) und den Germanisten Matías Martínez und Michael Scheffel (Einführung in die Erzähltheorie) verknüpft sind – beides Werke, die sich von Stanzel absetzen bzw. die einflußreiche Tradition des französichen Narratologen Gérard Genette als Modell verwenden. Prof. Dr. Monika Fludernik, die von der DFG das Projekt „Narratologie diachron" im Rahmen der Förderlinie Koselleckprojekte bewilligt bekommen hat, ist eine Schülerin von F. K. Stanzel und hat sich in ihrer narratologischen Forschung um eine Synthese zwischen Stanzel und Genette bemüht. Ihre Arbeiten zur Erzähltheorie sind vor allem durch drei Aspekte gekennzeichnet: sie konzentrieren sich auf die Oberflächenstruktur von Erzählwerken, also auf die sprachliche - syntaktische, lexikalische - Ebene der Texte; sie benützen daher das Instrumentarium der modernen Linguistik, um Erzählungen zu beschreiben; und sie integrieren neben literarischen Erzählungen sowohl mündliche Alltagserzählungen wie das volle Spektrum von mittelalterlichen bis postkolonialen Texten in ihre Theoriemodelle, wobei auch faktuale Erzählungen mit berücksichtigt werden (dh. historische, juristische Texte, Briefe und andere Gattungen). Fludernik ist daher seit jeher eine Vertreterin des „Language and Literature"-Ansatzes gewesen, also der linguistischen Analyse literarischer Texte; und sie hat im Rahmen dieses Ansatzes vor allem die linguistische Diskurs- und Konversationsanalyse. die sich mit Alltagserzählungen auseinandersetzt, sowie die linguistische Pragmatik in ihrer Arbeit eingesetzt. Mit Pragmatik ist hier gemeint, dass Sprache, beziehungsweise hier Literatur, nicht nur unter der Perspektive des Sprachsystems untersucht wird, sondern vor allem im tatsächlichen Kontext der Anwendung, der parole nach Saussure.

Kognitionswissenschaftliche Perspektiven

Von Beginn an hat sich Fludernik Texte aus verschiedenen Jahrhunderten untersucht. So hat sie bereits in ihrer Habilitation The Fictions of Language and the Languages of Fiction (1993) die Rede- und Gedankendarstellungsmodi im Englischen vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart analysiert und dabei auch die mündliche Sprache mit einbezogen. Dabei ging es ihr hauptsächlich darum zu zeigen, dass etwa ein Darstellungsverfahren wie das der erlebten Rede (free indirect discourse) bereits in mittelenglischen Texten, wenn auch nur ansatzweise, festgestellt werden kann, obwohl diese Technik sonst immer erst ab dem späten neunzehnten Jahrhundert verortet wurde. In ihrer Erzähltheorie Towards a 'Natural' Narratology (1996) hatte Fludernik dann kognitionswissenschaftliche Perspektiven aufgegriffen und eine These aufgestellt, nach der mündliche Erzählstrukturen, insbesondere das episodische Erzählen, sich im englischen narrativen Schrifttum des Spätmittelalters mit einsetzendem Gebrauch des Englischen, statt des Lateinischen oder Anglonormannischen, als Residua oder Substrate erkennen lassen und in der frühneuenglischen Literatur zu neuen Erzählstrukturen wandeln, die dem eher blockartigen Erzählstil des Romans näherkommen. Diese These wurde auf der Basis von wenigen selektiven Textbeispielen entwickelt. Sie proponiert also eine Entwicklung der Erzählstruktur, welche sich an der Textoberfläche von Erzählungen äußert und zwischen dem 13. Jahrhundert und dem 17. Jahrhundert Entwicklungen unterliegt, die die gültige Erzählstruktur abändern, wobei diese Wandlungen möglicherweise nicht einheitlich verlaufen.

Entwicklungen an größerem Textmaterial validieren oder widerlegen

Hier setzt das Koselleckprojekt an, das nach dem Format der DFG-Förderlinie „Koselleck-Projekt" Forschung unterstützt, die langjährige Forschungsorientierungen auf eine neue Ebene hebt und im Rahmen einer originären Fragestellung bearbeiten soll. Im vorgegebenen Fall handelt es sich nun darum, die in Towards a 'Natural' Narratology skizzierten Entwicklungen an größerem Textmaterial zu validieren oder zu widerlegen und dies vor allem unter der Perspektive verschiedener Gattungen zu tun. Eine der zentralen Fragen ist also, ob gewisse Erzählelemente, die mit der episodischen Erzählstruktur einhergehen, zum Beispiel der Gebrauch von sogenannten Diskursmarkern wie tho, than, so, thus, in verschiedenen Gattungen zur gleichen Zeit bestimmten Wandlungen unterliegen - so lässt sich bei den Diskursmarkern feststellen, dass sie im 14. Jahrhundert recht zahlreich sind, dann im 15. Jahrhundert eher auf wenige beschränkt werden und im 16. Jahrhundert wieder mehr Diversität aufweisen - oder ob die Entwicklungen zeitversetzt erfolgen beziehungsweise in einzelnen Gattungen ganz andere Verläufe festzustellen wären. Darüber hinaus soll auch die teleologische Tendenz der Originalthese hinterfragt werden, also die Annahme, dass sich die Entwicklungen zielgerichtet auf den Roman zubewegen.

Monika Fludernik plant in ihrem Koselleckprojekt zwei große Publikationsvorhaben. Foto: Jürgen Gocke

Zwei große Publikationsvorhaben

Das Koselleckprojekt unternimmt zwei große Publikationsvorhaben. Einerseits soll es die oben beschriebene Studie in zwei dicken Bänden geben, welche Gattung für Gattung die Wandlungen der Erzählstruktur anhand einer jeweils repräsentativen Auswahl von Texten analysiert und dann auswertet, welche Parallelitäten oder divergierende Entwicklungen sich beobachten lassen. Dabei sollen zahlreiche Elemente der Erzählungen untersucht werden, nicht nur Diskursmarker sondern auch syntaktische Elemente, Funktionen der Erzählstimme, die Handhabung von Dialogen und anderes mehr. Die zu untersuchenden Gattungen inkludieren die mittelenglische Romanze in ihren Vers- und Prosavarianten, das fabliau, die Vers-Heiligenlegende, die Prosalegende und andere frühneuzeitliche Kontroverstexte, Geschichtsschreibung, Brief- und Tagebucherzählungen sowie weitere frühneuzeitliche Gattungen. An dieser Studie arbeiten neben Monika Fludernik auch die anderen Projektmitarbeiter*innen: Dr. Carlotta Posth, die sich mit den Einflüssen aus dem französischen Schrifttum befasst und Parallelen zum mittelalterlichen Deutschen untersucht; Sonia García de Alba, die das Kapitel zur Prosaromanze des 15. und frühen 16. Jahrhunderts bearbeitet, sowie Sebastian Straßburg, der die Gattung der romance im 16. und 17. Jahrhundert bearbeitet. Weiteres Knowhow wird von Junior-Professorin Dr. Eva von Contzen und Prof. Dr. Stefan Tilg für das Mittelenglische und das mittelalterliche Lateinische mit eingebracht. Einige der Kapitel werden von assoziierten Wissenschaftler*innen verfasst.

Das zweite Publikationsvorhaben, das an die Fertigstellung der zwei Bände der Entwicklung in den einzelnen Gattungen anschließt, wird von Fludernik allein bestritten und besteht aus einer Monographie, in der dem diachronen Wandel theoretisch und methodisch anhand einiger Fallbeispiele (case studies) nachgespürt werden soll. Hier geht es vor allem darum zu untersuchen, wie sich die Veränderungen einzelner Elemente systematisch auswirken, zum Beispiel auf die Notwendigkeit, einzelne Aspekte der Erzählung mit ganz anderen Mitteln zu textualisieren, beziehungsweise wie einige Elemente für neue Funktionen einsetzbar werden. So lässt sich etwa zeigen, dass Strategien, die vormals das Zentrum einer Erzählepisode markierten, nunmehr als Auftakt eines Ortswechsels und daher oft zu Kapitelbeginn eingesetzt werden. Eine der Herausforderungen der geplanten Monographie wird es sein, zwischen methodischen Einsichten aus der historischen Sprachwissenschaft, besonders der sogenannten Historischen Pragmatik, und den kulturell und ideengeschichtlich aufgestellten Entwicklungsmodellen aus der Literaturwissenschaft zu vermitteln und ein Modell zu finden, dass die beobachteten Phänomene in ihren Wandlungen sowohl formal wie auch literarisch-kontextuell beschreiben kann. Schließlich wird das Projekt auch einen wesentlichen Beitrag zur historischen Narratologie liefern, also zur Untersuchung von Erzählungen in einzelnen zeitlichen Epochen.