Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken Konzepte, die in Krisen den Weg …

Konzepte, die in Krisen den Weg weisen

Das Netzwerk NO-FEAR hat einen europäischen Dialog über die Coronapandemie initiiert

Freiburg, 31.03.2020

Als das Netzwerk NO-FEAR 2018 seine Arbeit aufnahm, galt das, was in Barcelona, London, Nizza oder Berlin passiert war, als die größte denkbare Katastrophe: politisch motivierte Terrorattentate von Einzelnen oder Gruppen auf die Zivilgesellschaft. An eine verheerende Pandemie dachte da niemand. Nun wird das Netzwerk, das inzwischen auf 200 Mitglieder angewachsen ist, zu einer zentralen Plattform für den europäischen Austausch über die Coronapandemie.

Wer wird zuerst behandelt – und wer muss auf medizinische Hilfe warten? Nils Ellebrecht untersucht das Verfahren der Triage. Foto: fabrus/stock.adobe.com

Rettungs- und notfallmedizinische Einrichtungen, Unternehmen und Forschungsinstitute aus ganz Europa: Für sie ist das Netzwerk NO-FEAR gerade in diesen Zeiten eine wichtige Plattform für Austausch. NO-FEAR steht für „Network of Practitioners for Emergency Medical Systems and Critical Care“ und ist ein von der Europäischen Union gefördertes Projekt. Der Soziologe Nils Ellebrecht vom Freiburger Centre for Security and Society (CSS) koordiniert für das Netzwerk die Forschung zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten der Notfallmedizin. Am CSS bündelt sich Vieles, was während der Coronakrise und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft von Belang ist: Das Centre forscht seit 2009 interdisziplinär zur zivilen Sicherheit.

Da das Konsortium NO-FEAR von Crimedim, einem Forschungsinstitut im italienischen Novara geleitet wird, verfügten Mitglieder des Netzwerks bereits früh über Erfahrungen mit der Lungenkrankheit Covid-19. Darüber hinaus sind bedeutende Rettungsdienstorganisationen aus Norditalien, Frankreich und Spanien am Netzwerk beteiligt. In den vergangenen Wochen hat das Netzwerk zwei Webinare zum Thema mit insgesamt 580 Teilnehmerinnen und Teilnehmern veranstaltet. Das letzte organsierte Nils Ellebrecht.

Schreckgespenst Triage

In seiner Dissertation, die er 2019 abschloss, widmete Ellebrecht sich auch einem Thema, das seit einigen Wochen als Schreckgespenst durch die Medien geistert: die Triage. Damit ist ein Verfahren gemeint, mit dem medizinisches Personal priorisieren kann, wann welche Patientinnen und Patienten behandelt werden. Hierzulande wurde die Triage in den 1960er Jahren erstmals wieder relevant, als sich Kliniken Dialysegeräte anschafften. „Ethisch-bitter“ nennt Ellebrecht das: dass Medizinerinnen und Mediziner darüber entschieden, wer in den Genuss der neuen Technologie kommen durfte.

Zufriedenstellende Lösungen könne es nicht geben, wenn Leben gegen Leben abgewogen werden müsse. Es sei ein Dilemma. Dennoch könne man auf Konzepte und Leitlinien nicht verzichten. Eine rein situative, ungeplante Triage sei die üblere Alternative. Daher müssten nun rasch Leitlinien entwickelt und diskutiert werden. Das italienische Beispiel habe gezeigt, wie wichtig eine möglichst breite Diskussion im Vorfeld sei – auch um die Bevölkerung mitzunehmen. (Anmerkung der Redaktion: Kurz nach dem Gespräch mit Nils Ellebrecht hat ein Zusammenschluss medizinischer Fachgesellschaften eine entsprechende Entscheidungsempfehlung veröffentlicht.)

Was steckt hinter einem Rettungsplan?

Als Soziologe interessiert sich der Forscher für die gesellschaftliche Dimension von Rettungsplänen. „Denn es ist nicht allein eine medizinische, eine diagnostische oder therapeutische Entscheidung, wen man rettet und wen nicht.“ Der Blick auf verbleibende Lebensjahre oder die Lebensqualität: „Das sind keine medizinischen Kriterien, dahinter stehen gesellschaftliche Normen. Die Medizin ist dabei gut beraten, sich mit Fachleuten aus der Ethik und Soziologie auszutauschen und in ruhigeren Zeiten einen Dialog mit der Bevölkerung über diese Konzepte zu führen.“ Zumal eine Triagelogik auch zum Tragen kommt, wenn in Hospitälern das Schutzmaterial knapp wird: So geht dort die bessere Ausrüstung an diejenigen, die im engeren Kontakt zu Patienten stehen. Dies sind in der Regel die Ärztinnen und Ärzte. Es sei schwierig, diese Ungleichbehandlung zur Sprache zu bringen.

Ellebrecht beobachtet, wie jedes politische System gemäß dessen Erfahrungen und kulturellen Werten einen eigenen Umgang mit der Pandemie findet. So sei auffallend, dass man in Deutschland an die Selbstverpflichtung moderner politischer Subjekte appelliere, während in China autoritäre Maßnahmen mithilfe des Militärs durchgesetzt wurden. In Südkorea gehe man noch einen anderen Weg: Die Regierung versucht, über Informationstechniken und eine totale Transparenz die Krise einzudämmen.

Notfallpläne auszutauschen und sie zu diskutieren sind die eigentlichen Ziele von NO-FEAR. Der Name des Netzwerks ist zwar eine Abkürzung, aber doch auch wörtlich zu verstehen, sagt der Soziologe: „Die Leitidee ist, für einen Notfall gute Praktiken zu entwickeln und sie auf einer europäischen Ebene auszutauschen, um in einer Krise weniger Angst haben zu müssen. In einem Notfall ist es gut, ein Konzept zu haben, das einem den Weg weist und erprobt ist.“

Annette Hoffmann

 

Centre for Security and Society