Feiern, flirten, frei sein
Freiburg, 16.01.2018
Die Diskotheken auf dem Land feiern ein Comeback – zumindest virtuell. Ihr oft rustikales Ambiente und die Musik der 1970er, 1980er und 1990er Jahre leben in den sozialen Medien wieder auf. Dr. Dr. Michael Fischer, Leiter des Zentrums für Populäre Kultur und Musik, forscht über Diskotheken im Schwarzwald. Judith Burggrabe hat sich mit ihm über deren Einfluss auf die Jugendkultur unterhalten.
Foto: vchalup/Fotolia
Herr Fischer, wie ist die Idee zu diesem Projekt entstanden?
Michael Fischer: Ausgangspunkt war eine Anfrage des „Schwarzwälder Freilichtmuseums Vogtsbauernhof“. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, einen Vortrag zur Musikkultur der 1980er Jahre zu halten. Ich sagte spontan zu, wusste allerdings nicht, dass es kein Material zu dem Thema gibt. Ich konnte nicht einfach zu einem Buch greifen und den Stoff nachlesen. Hier war originäre Forschungsarbeit mit Archivbesuchen sowie Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gefragt.
Der Film „Saturday Night Fever“, der vor 40 Jahren in die Kinos kam, begründete den Durchbruch der Diskowelle. Wie kam es dazu?
Das Diskoflair lag schon vor dem Film in der Luft. Ende der 1950er Jahre begannen die ersten Lokale, ihre Gäste mit Schallplatten zu unterhalten. Für die Gäste hatte es den Vorteil, dass sie stets das Original hörten; schon beim Rock’n’Roll war das ein wichtiges Argument für den Kauf einer Platte. Und für die Wirtinnen und Wirte waren Schallplatten und ein Diskjockey, der auflegte und moderierte, einfach günstiger. Ende 1977 setzte sich die Diskowelle dann mit Erscheinen des US-amerikanischen Films „Saturday Night Fever“, der in Deutschland unter dem etwas biederen Titel „Nur Samstag Nacht“ zu sehen war, endgültig durch.
Wie zügig breitete sich das Disko-Phänomen in der Bundesrepublik aus?
Es sind schnell sehr viele kleine Diskotheken entstanden. Um 1980 gab es bereits zwischen 8.000 und 9.000 Betriebe. Gerade im ländlichen Raum existierten wenig Freizeitalternativen zu diesem jugendaffinen Unterhaltungsangebot. Die Diskos sollten Jugendliche in infrastrukturell eher unterversorgten und bis dato gesellschaftlich traditionell geprägten Gebieten ansprechen.
Viele Pädagogen waren der Ansicht, man stehe schon mit einem Bein im Grab, wenn man eine Diskothek besuchte. Michael Fischer interessiert sich besonders für solche kulturellen Bewertungen des Phänomens. Foto: Jürgen Gocke
Warum waren die Tanzlokale für die Jugendlichen so attraktiv?
Der springende Punkt ist, dass die Disko Freiheit versprach. Sie war Ausgangspunkt zum Kennenlernen, zum Flirten und zum Anbahnen von Freundschaften oder sexuellen Begegnungen. Die Badische Zeitung hat es 1996 so auf den Punkt gebracht: „Nur zum Tanzen in die Disco? Von wegen! Die Hauptsache ist das Flirten.“ Außerdem war es dort laut, und die Erwachsenen blieben weg. So entstand ein Raum nur für Jugendliche, der ein gewisses Maß an Autonomie und Selbstkontrolle versprach.
Welche kulturellen Konflikte brachte das mit sich?
In einer Tanzbar in Freudenstadt gab es beispielsweise Streitigkeiten zwischen den Anwohnerinnen und Anwohnern und den Jugendlichen wegen Lärmbelästigung. Sehr deutlich zeigte sich dieser Generationenkonflikt an den Beschwerdebriefen, die an die Gemeinde gerichtet wurden. Darin wurden Türenschlagen, lautes Reden, exzessives Rauchen und vieles mehr beanstandet. Die Älteren störte nicht nur der Lärm, sondern die gesamte Jugendkultur; sie verstanden nicht, was die jungen Menschen in den Diskos suchten. In den Beschwerdebriefen hieß es unter anderem, die jungen Leute sollten doch lieber im Kurgarten Unkraut jäten. Klar, dass die Jugendlichen dagegen rebellierten.
Gab es auch soziale Spannungen?
Da die angesagten Diskotheken teilweise sehr große Einzugsgebiete hatten, mussten die Jugendlichen mobil sein, um abends weggehen zu können. Allerdings kam es wegen des Alkoholkonsums zu zahlreichen Unfällen. Eine Gemeinde kam auf die Idee, einen Schwarzwaldbus einzusetzen, der über verschiedene Dörfer fuhr, die Jugendlichen einsammelte und sicher zur Disko brachte. Während die Eltern damit einverstanden waren, fanden die Jugendlichen den Bus hochgradig spießig und nutzten ihn kaum, sodass dieses Angebot wegen mangelnder Nachfrage wieder eingestellt werden musste. Diese Anekdote zeigt, dass das Ganze mit viel Symbolik aufgeladen war: Der Bus hat quasi auf symbolischer Ebene versagt, weil er dem Freiheitsgefühl der Jugendlichen widersprach.
Toupierte Haare, viel Denim, noch mehr Leder und der Doppelgänger von Atze Schröder: ein Konzert aus den 1990er Jahren. Fotos: Kai-Uwe Bitsch
Diskotheken standen damals auch im Verdacht, ein Umschlagplatz für Drogen zu sein.
Das stimmt nur teilweise. Der politische Diskurs war damals etwas hysterisch. Allgemein, vor allem unter Pädagoginnen und Pädagogen, herrschte die Ansicht, man stehe mit einem Bein schon im Grab, wenn man eine Disko besuchte. Für mich als Wissenschaftler ist diese kulturelle Bewertung des Phänomens interessant. Damals hieß es oft auch, die Jugend werde durch Drogen, Alkohol und unangemessene Musik verdorben. Diese Zwistigkeiten führten zu kuriosen Aktionen. Zum Beispiel organisierte die Polizei Tanzveranstaltungen und versuchte, vor Ort über Drogen aufzuklären. Ein Lokal in Waldkirch erklärte sich bereit, Durchsagen über die Gefahren von Drogen zu machen und Handzettel zu verteilen. Ebenso sollte Musik mit drogenaffinen Texten vermieden werden. Im Grunde war das Ganze reichlich übertrieben, denn der Aktenlage zufolge gab es keine gravierenden Vorfälle.
Was unterscheidet die Diskos von damals von den Clubs von heute?
Das „Diskofieber“ schwächte sich in den 1990er Jahren ab. Die Clubs von heute agieren viel differenzierter und sprechen ihr Publikum passgenauer an. Häufig gibt es mehrere Räume, in denen zu unterschiedlicher Musik getanzt werden kann; Rustikalität wird dabei kaum noch geboten. Die ländliche Populärkultur von damals wird heute von 40- bis 60-Jährigen nostalgisiert – bei Revival-Partys oder in den sozialen Medien.