Europa, wisch und da
Freiburg, 13.05.2019
Soll die Europäische Union eigene Steuern erheben können, soll der Euro als gemeinsame Währung abgeschafft werden? Welche Antworten die Parteien hierauf geben, die zur Europawahl am 26. Mai antreten, und ihre Antworten auf weitere Fragen finden Wählerinnen und Wähler in einem neuen Online-Tool, dem „VoteSwiper“, den der Freiburger Politologe Prof. Dr. Uwe Wagschal konzipiert hat. Sie können so ermitteln, mit welcher Partei sie am meisten übereinstimmen, um auf dem Stimmzettel eine bewusste Wahl zu treffen. Sie können sich aber auch in den Europawahlprogrammen von Parteien anderer EU-Staaten umsehen, mit denen die Abgeordneten des eigenen Landes in den länderübergreifenden Fraktionen des Europäischen Parlaments zusammenarbeiten werden. Verena Adt hat mit Uwe Wagschal über das neue Instrument zur Entscheidungshilfe gesprochen.
Am 26. Mai 2019 entscheiden die Wählerinnen und Wähler der EU-Länder über die neue Zusammensetzung des Europaparlaments: Uwe Wagschal will mit seinem Online-Tool „VoteSwiper“ vorab viele Leute über die wichtigsten Themen dieser Wahl informieren. Foto: Europäisches Parlament
Herr Wagschal, Sie haben bereits für mehrere Landtagswahlen in Deutschland Wahlhilfe-Tools mitentwickelt. Was ist das Neue am „VoteSwiper“, den Sie nun für die Europawahlen erstellt haben?
Uwe Wagschal: Den „VoteSwiper“ bieten wir in mindestens fünf EU-Ländern an, und zwar mit weitgehend identischen Fragen. Es war für uns ein wichtiges Ziel, dass wir die EU-Länder vergleichen können. Deshalb sind bei uns über 80 Prozent der Fragen, die die Nutzerinnen und Nutzer beantworten, um ihre Position im Verhältnis zum Programmangebot der Parteien zu ermitteln, in allen Ländern dieselben. Nur das ermöglicht einen Vergleich unter den Ländern, und den halten wir bei einer Europawahl für sinnvoll. Von insgesamt 30 Fragen sind nur fünf spezifisch auf das jeweilige Land bezogen.
Was sind das für Fragen?
Die fünf landespezifischen Fragen greifen Themen auf, die im jeweiligen Land politisch aktuell diskutiert werden und eine europäische Dimension haben. In Deutschland ist das beispielsweise die Frage, ob sich das Land für ein europaweites Verbot von Glyphosat einsetzen soll, in Frankreich etwa die nach der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Unternehmensbesteuerung.
Und welche Fragen sind überall gleich?
Von den insgesamt 30 Fragen sind 20 Fragen explizit auf Europa bezogen. Beispielsweise, ob die Europäische Union ein Eurozonenbudget mit einem eignen europäischen Finanzminister haben oder ob die EU Forschung mit menschlichen Embryonen verbieten soll. Dann gibt es noch fünf Fragen, die auf die Länder fokussiert und für alle gleich sind. Beispielsweise ob Deutschland – oder Frankreich oder Schweden oder eben das jeweils betreffende Land - wieder eigene Grenzkontrollen durchführen oder ob es für die Abschaffung der Russland-Sanktionen eintreten soll.
Wie haben Sie das Sprachenproblem gelöst?
Wir bieten den „VoteSwiper“ in den Sprachen aller beteiligten Länder an. Außerdem gibt es jede nationale Befragung auch in Deutsch, Französisch und Englisch. Jemand in Deutschland kann sich also beispielsweise die Positionen der ungarischen oder polnischen Parteien zu den verschiedenen Fragen auf Deutsch anschauen. Das ist ja nicht nur von theoretischem Interesse, denn die von den deutschen Wählern ins Europaparlament gewählten Abgeordneten arbeiten in gemeinsamen Fraktionen mit Parteivertretern aus vielen anderen EU-Staaten zusammen. Und wie sich in den Wahlprogrammen zeigt, haben Parteien einer Fraktion keineswegs in allen Fragen homogene Standpunkte. Für einen deutschen CDU-Wähler kann es beispielsweise sehr interessant sein, sich anzusehen, was die ungarische Fides-Partei will, die im Europaparlament in einer Fraktion mit der CDU/CSU sitzt.
Mit der Entwicklung des „VoteSwipers“ verfolgt Uwe Wagschal zwei Ziele: Auf Basis der Antworten der Parteien kann er Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Parteien wissenschaftlich untersuchen. Zudem möchte er die zuletzt rückläufige Wahlbeteiligung steigern. Foto: Jürgen Gocke
Wie wurden die Fragenlisten erstellt?
Aus wissenschaftlicher Sicht ist das die spannendste Frage: Welche Themen werden erfasst? Da schaut man sich an: Was ist aktuell, was wird gerade auf Europaebene viel diskutiert? Was sagen die Parteien dazu? Dazu schauen wir die Europawahlprogramme der Parteien und die Presse an. Wir haben hier unser schon von vorangegangenen Projekten erfahrenes Team, und wir haben in jedem Land ehrenamtliche Kollegen und Kolleginnen, die uns zuarbeiten.
Warum sind nicht alle 28 EU-Staaten dabei?
Das liegt an der Finanzierung. Wir haben verschiedene proeuropäische Institutionen angesprochen, ob sie einen finanziellen Beitrag leisten wollten, aber keine wollte uns unterstützen. Die Mitarbeit bei uns basiert auf Ehrenamtlichkeit. Die inhaltliche Struktur stellen wir hier in Freiburg kostenlos zur Verfügung, die technische Kompetenz und die Serverkosten steuert die Berliner Start-up Movact bei. Das Tool ist sehr modern gestaltet, man wischt durch das Programm und klickt nicht mehr, außerdem gibt es die Möglichkeit, kurze Erklär-Videos einzufügen. Leider konnten wir wegen mangelnder Finanzierung beim VoteSwiper keine Videos machen.
Wen erreicht ihr Angebot zur Wahlentscheidung?
Die Reichweite ist sehr groß. Wir hatten 500.000 Teilnehmer bei der Bundestagswahl 2017 und für die Europawahl ist eine Million Teilnehmer unser Ziel. Im kleinen Bundesland Bremen nutzten in den ersten 24 Stunden über 4000 Teilnehmer die App zur dortigen Bürgschaftswahl. Die Nutzer sind keineswegs alles junge Leute. Bei der Landtagswahl in Hessen, bei der wir eine Auswertung vorgenommen haben, lag das Durchschnittsalter der User unseres „WahlSwipers“ zwischen 40 und 50 Jahren. Und auch die 50- bis 60Jährigen sind gut dabei. Man denkt immer, das spricht nur die Jungen an, aber dem ist nicht so.
Welche Ziele verfolgen Sie mit der Entwicklung des „VoteSwipers“?
Wir haben zwei Interessen. Zum einen ein wissenschaftliches. Diese Daten kann man gut nutzen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Parteien zu untersuchen. Etwa: Sind Sozialdemokraten in Frankreich ähnlich wie die in Deutschland? Wie ist das grüne Parteienlager quer durch die verschiedenen Länder aufgestellt? Wie sind die Positionen in Osteuropa verglichen mit Westeuropa, in Nordeuropa verglichen mit Südeuropa? Von den 160 oder 170 Parteien, die im Europaparlament vertreten sind, werden am Ende 60 bis 70 Punkt für Punkt vergleichen können.
Und das zweite Ziel?
Da geht es zunächst um die Wahlbeteiligung. Sie ist bei den Europawahlen rückläufig und lag zuletzt deutlich unter 50 Prozent. Unser Tool kann hier auf jeden Fall nützlich sein. Wir kommen damit an viel breiteres Publikum als es die Zuschauer von Politik-Kanälen wie Phoenix sind. Wir erreichen die Jugend und auch Menschen, die zunächst vielleicht gar nicht an den Europawahlen interessiert sind, aber durch soziale Medien und anderen Austausch über unsere Anwendung darauf aufmerksam werden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Leute ihre eigene Auswertung in den sozialen Medien posten. Das hat einen Schneeballeffekt. Wir wollen daneben aber auch über Europa informieren, die dort wichtigen Themen und wie die Parteien dazu stehen. Wenn jemand dreißig Fragen zu Europa liest und über seine Antworten darauf nachdenkt, ist schon viel gewonnen.