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Die letzten Urwälder Europas

Neue Studie zeigt, wie stark Gebiete in Rumänien von Abholzung bedroht sind

Freiburg, 16.09.2021

Ein Team um Prof. Dr. Albert Reif legt eine umfassende Studie zur Bedeutung, Situation und Zukunft der Urwälder in Rumänien vor. Die Forschenden analysieren darin, wie staatliche rumänische Institutionen zum Schutz der Urwälder und alten Wälder agieren, und erklären die Situation im Forst- und Holzsektor, die sich im Zusammenspiel zwischen Politik, Verwaltung und Unternehmen entwickelt hat. Die Autorinnen und Autoren der Studie fordern, dass es ein gesamteuropäisches Anliegen sein muss, die letzten großen Urwälder zu schützen, wie es als zentrales Element in der Biodiversitätsstrategie 2030 der Europäischen Union formuliert ist.


In den den rumänischen Karpaten existieren noch großflächige Urwälder: Das Boia Mica Tal im Făgăras-Gebirge; rund 1.000 Hektar unberührte Wildnis mit Primärwäldern in unterschiedlichen Stadien, ist die Heimat von Luchsen und Bären. Foto: Rainer Luick

Der Onlinehandel wächst stetig weiter: Der Bedarf an Holz und Verpackungsmaterial durch den Versandhandel ist dadurch derart groß, dass auch die letzten europäischen Urwälder in Rumänen von Abholzung bedroht sind. Seit 1995 reist Prof. Dr. Albert Reif, der bis zu seiner Pensionierung 2018 Professor für Standorts- und Vegetationskunde an der Albert-Ludwigs-Universität war, immer wieder nach Rumänien. Seine Expertise brachte er als Co-Autor in die Studie „Urwälder im Herzen Europas: Bedeutung, Situation und Zukunft der Urwälder in Rumänien“ mit ein. In dieser Publikation analysieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Bedeutung, Situation und Zukunft der rumänischen Wälder und vor allem der dortigen Urwälder. Diese Studie entstand in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. R. Luick von der Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg und weiteren Forschenden.

Begehrlichkeiten aus dem Ausland

27 Prozent der Fläche oder 6,4 Millionen Hektar Rumäniens sind bewaldet. Etwa 3,4 Millionen davon sind im staatlichen Besitz. Viele Wälder wurden in den zurückliegenden Jahren an die alten Besitzer als Privat- oder Kirchenwald zurückgegeben, andere wurden privatisiert und oftmals unter Wert verkauft. Vor allem nach dem Beitritt in die Europäische Union seien die Begehrlichkeiten aus dem Ausland gewachsen, erklärt der Freiburg Forscher. In der Nähe der Karpaten haben sich riesige Sägewerke internationaler Firmen angesiedelt, die einen hohen Bedarf an Holz haben.

In seinen Wäldern beherbergt Rumänien einen Großteil der verbliebenen Urwälder der gemäßigten Klimazone Europas. Urwald und urwaldartige Bestände nehmen heute schätzungsweise zwischen 100.000 und 300.000 Hektar an Fläche ein, vor etwa 20 Jahren waren ihre Flächen etwa doppelt so groß. Dass die Urwälder überhaupt noch existieren, hat auch politische Gründe: Viele dieser Wälder sind abgelegen, früher war es zu aufwändig, sie durch Wege zu erschließen, zudem fehlten die technischen Mittel. Bis zum so genannten Wendejahr 1990 standen die Urwälder unter einem strengen Schutz, jedes Vergehen wurde verfolgt. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und durch staatlichen Kontrollverlust kamen nicht nur Motor- und Kreissägen ins Land, sondern es herrschte auch eine Goldgräbermentalität. „Jeder hat sich geholt, was es zu holen gab“, sagt Reif.

Illegale Holzungen

Nach dem rumänischen Waldgesetz aus dem Jahr 2012 sind alle Urwälder und urwaldartige Bestände geschützt, allerdings gibt es bis heute keine valide Urwaldkartierung des Landes. Werden Waldflächen gemeldet, um als Urwald oder urwaldartiger Bestand anerkannt zu werden, so muss das die regionale Forstbehörde bescheinigen. Da das aber dem Bestreben nach Holznutzung widerspricht, werden diese gemeldeten Waldflächen nur sehr selten anerkannt. Alle existierenden Kartierungen von Urwäldern stammen von Nichtregierungsorganisationen, deren Recherchen durch Verweigerung der Datenlieferung oder komplexe Erlaubnisverfahren von Seiten der staatlichen Forstbehörde nicht gefördert wurden. Diese Studien beruhen daher vor allem auf der Auswertung von international verfügbaren Daten wie Satellitenbildern anstelle terrestrischer Inventuren vor Ort. Entsprechend fehlerbehaftet seien die bestehenden Studien, doch mangele es an Alternativen, erklärt Reif.


Insbesondere nach dem Beitritt Rumäniens in die Europäische Union im Jahr 2007 hat der großflächiger Holzeinschlag in den rumänischen Karpaten drastisch zugenommen. Dieses Gebiet im südlichen Făgăras-Gebirge war zuvor von einem ausgedehnten Urwald mit altem Baumbestand bedeckt. Nun sind die steilen Hänge anfällig für Erosion. Foto: Christoph Promberger / Fundația Conservation Carpathia

Das Geschäft mit dem Holz ist lukrativ. Werden Wälder illegal genutzt, verliert der Staat Steuereinnahmen. In den Jahren zwischen 1990 und 2011 seien etwa 80 Millionen Kubikmeter Holz illegal gefällt worden, rechnet der Freiburger Forscher vor. Solche illegalen Holzungen zu quantifizieren, ist schwierig. Reif nennt eine Schätzung der Agrarkommission der Europäischen Union für den Zeitraum zwischen den Jahren 2014 und 2017, die sich auf 8,7 Millionen Kubikmeter pro Jahr illegal gefälltes Holz beläuft. Fotos der Studie zeigen trotz Kahlschlagverbot völlig baumfreie Hanglagen, etwa aus dem Făgăras-Gebirge in den Südkarpaten. Beispielsweise seien um das Jahr 2017 in kurzer Zeit mehrere Tausend Hektar kahlgeschlagen worden, mit allen negativen Folgen für den erodierenden Boden und den Eintrag in die Gewässer.

Wichtiger CO₂-Speicher

Die neue Studie verfolge jedoch keine politische Intention, erklärt Reif: „Sie ist vielmehr ein Plädoyer für die letzten erhaltenen Urwälder, die wir in Mitteleuropa haben.“ Deren Bedeutung ist international anerkannt, die Buchenwälder der Karpaten sind ein Weltnaturerbe der Unesco. „Urwälder enthalten eine Vielfalt an Arten und ihres Genpools, der nicht durch selektionierende Eingriffe des Menschen verändert wurde. Verschwinden die Arten, kommen sie so schnell nicht wieder“, erläutert Reif. „In unseren Wirtschaftswäldern fehlt diese ungebrochene Habitat-Traditionfast vollständig. Hinzu kommt ihre Bedeutung als CO₂-Speicher und als Referenz-Ökosystem angesichts der heutigen Umweltveränderungen.“

Doch sei Rumänien, sagt der Forscher, bei der Übernutzung der Wälder und der Zerstörung mancher Urwälder nicht nur Täter, sondern zugleich auch Opfer: „Denn auch in Deutschland rufen Holzindustrie und Wissenschaft nach verstärkter Nutzung von Holz als erneuerbarem Rohstoff. Dies klingt zunächst einleuchtend.“ Gefährlich werde diese Forderung jedoch dann, wenn dies gegenüber dem Schutz der Biodiversität der Urwälder ausgespielt wird, also Umweltschutz gegenüber Naturschutz priorisiert wird. „Man darf diese verschiedenen Interessen nicht gegeneinander ausspielen“, ist Reif überzeugt. „Wirtschaftswald und Waldschutzgebiete müssen nebeneinander Bestand und Akzeptanz haben. Waldschutzgebiete dürfen nicht wegen zunehmender Begehrlichkeiten nach immer noch mehr Biomassenutzung unter die Räder kommen. Wir brauchen eine nachhaltige Ressourcennutzung und eine Gesellschaft, die ein Gleichgewicht anstrebt.“

Annette Hoffmann