Der Reformator
Freiburg, 27.10.2017
Ob Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen tatsächlich eigenhändig an die Türe der Schlosskirche in Wittenberg genagelt hat, ist umstritten. Fest steht, dass sein Aufbegehren tüchtig an der spätmittelalterlichen Welt gerüttelt hat. Seine Gedanken wirken bis in die Gegenwart hinein – inner-, aber auch außerhalb Europas. Forscherinnen und Forscher der Albert-Ludwigs-Universität haben sich dem Menschen und dem Reformator Luther genähert. Ein Gedankenmosaik, zusammengestellt von Stephanie Streif.
Illustration: Svenja Kirsch
Lieder für die Massen
Den deutschen Schlager gibt es nicht erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als sich Stars wie Marlene Dietrich oder Hans Albers durch die Clubs sangen. Bereits vor 500 Jahren verbreiteten sich Martin Luthers Reformationschoräle wie Schlager. Wie das funktionierte, erklärt Henrike Lähnemann, Professorin für Germanistische Mediävistik in Oxford/England und Fellow am Freiburg Institute für Advanced Studies (FRIAS) der Albert-Ludwigs-Universität: „Eingängige Melodien, volkssprachige Liedtexte und eine emotionale Botschaft: Das Drucken, das Übersetzen und das Singen waren Luthers Hauptverbreitungswege, die er geschickt miteinander kombinierte, um sein reformatorisches Gedankengut weiterzugeben.“ Vor Luther wurden theologische Inhalte vor allem in lateinischer Sprache überliefert. Gebete, Gesänge, die Bibel – oft unverständlich, zumindest für die breite Masse. Mit Luther änderte sich das.
Verbreitet wurden die Flugschriften, Liedblätter und Andachtstexte vor allem dort, wo man des Lesens mächtig war: in Bürgerkreisen, aber auch an Schulen, denn Luther folgte auch einem pädagogischen Auftrag: Die Jugend sollte einem gottgefälligen Zeitvertreib nachgehen. Bürger wie Schüler waren die Multiplikatoren, die Luthers Gedankengut singend in die Gesellschaft hineintrugen. Lähnemann erzählt, dass aus den Liedchen mitunter Protestgesänge wurden, zum Beispiel, wenn ein katholischer Pfarrer die Kanzel betrat und die Gemeinde, um ihm nicht zuhören zu müssen, einfach lossang. Gesang war aber auch ein subversives Moment: Der Fürst eines katholischen Territoriums etwa hatte aus Angst vor Aufruhr alle Schriften Luthers verboten. Singen durften seine Untertaninnen und Untertanen allerdings, schließlich transportierten die Lieder biblische Inhalte. „Die Lieder waren das U-Boot. Jahre später hat sich dieser Fürst der Reformation angeschlossen“, sagt Lähnemann.
Reformation ist kein historisches Ereignis, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Um das zu veranschaulichen, hat Lähnemann zusammen mit Studierenden einen Blog aufgesetzt, in den hineingepackt wird, was im Reformationsjahr an Vorlesungen, Workshops und Liveacts stattfindet. Transkriptionen und Übersetzungen der Reformationsflugschriften sind dort ebenfalls zu finden. „Der Blog ist der Versuch, die Lebendigkeit der medialen Debatte zur Zeit der Reformation im Netz abzubilden.“
Sexualität ohne Sünde
Lange wurde Martin Luther vorgeworfen, er habe seine Sexualität nicht in den Griff bekommen: Immerhin war er erst Mönch, trat dann aus dem Augustinerorden aus und heiratete später Katharina von Bora, mit der zusammen er sechs Kinder hatte. „Zu Luthers Zeiten war Sexualität in Intellektuellenkreisen mit der Vorstellung des Ungeregelten verbunden“, erklärt der Theologe Prof. Dr. Magnus Striet. Und alles Ungeregelte war gleichbedeutend mit Sündhaftigkeit. Auch für den jungen Luther war seine Umorientierung alles andere als leicht. Sollte er in den Ehestand wechseln? Sollte er nicht? Am Ende entschloss er sich dazu und war dann – wie Briefe belegen – selbst überrascht, wie viel Freude es ihm machte, mit einer Frau zusammen zu sein, auch sexuell. Fragt sich, wie Luther es schaffte, Körperlichkeit plötzlich positiv umzudeuten. Und das mitunter auch öffentlich. „In der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis hatte der Mensch vor allem Angst. Angst vor Gott, Angst vor der ewigen Verdammnis“, erklärt Striet. Luther sei es gelungen, mit dieser düsteren Vorstellungswelt zu brechen. „Oder besser: Er kommt zu der Einsicht, dass der Mensch aus sich heraus nichts für sein Heil tun kann, denn alles ist Werk Gottes, auch der Mensch samt seiner Sexualität.“
Spannend findet Striet, dass es bereits zu Luthers Lebzeiten einen in die gesamtreformatorischen Auseinandersetzungen eingebetteten Kampf um Sexualität gab. Zum Hintergrund: Nicht nur Mönche wie Luther, sondern auch viele Nonnen verließen damals ihre Ordensgemeinschaften. Das sei ein echtes Politikum gewesen, so Striet. Und während die Gegenreformation Enthaltsamkeit propagierte, bewertete Luther Sexualität als etwas zutiefst Menschliches. Die Geschlechterrollen seiner Zeit stellte er allerdings nicht infrage. In der Theorie egalisierte er zwar die Geschlechterverhältnisse, indem er das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen, also auch das der Frauen, verkündete und die Familie anstelle des Klerikalsystems als tragende Institution innerhalb der Gesellschaft installierte – patriarchal blieben die Strukturen aber trotzdem. Da sei Luther auch sein Biblizismus in die Quere gekommen, sagt Striet: „Eine starke Schriftfixierung führt meistens dazu, dass man nicht an dem rüttelt, was ist – der hermeneutischen Brille wegen, die beim Lesen aufbehalten wird.“
Im Jahr 1999 wurde Katharina von Boras 500. Geburtstag mit einer Briefmarke gefeiert, die ihren Konterfei trägt. Foto: laufer/Fotolia
Facetten der Freiheit
Bis vor Kurzem hat der Theologe Prof. Dr. Karlheinz Ruhstorfer noch in Dresden gewohnt. Dort hat er miterlebt, wie jeden Montag Tausende Menschen auf die Straße gingen, um mit radikalen Parolen gegen die Flüchtlingspolitik anzudemonstrieren. „Zum ersten Mal kam das Gefühl in mir auf, dass unsere freiheitliche Ordnung nicht mehr selbstverständlich ist.“ Für Ruhstorfer hat diese freiheitliche Ordnung auch mit Martin Luther zu tun. „Im Protestantismus konnte sich der Geist der Freiheit emanzipieren.“ Was nicht heißt, dass die Freiheit eine Erfindung des Protestantismus wäre. Anders als im katholischen Frankreich allerdings, wo die Aufklärung zum Bruch zwischen der Religion und dem bürgerlichen politischen Gemeinwesen führte, hat sich die religiöse und politische Landschaft in der Schweiz, den Niederlanden, Großbritannien und den USA miteinander verbunden: „Die freiheitliche Ordnung, die den Westen kennzeichnet, ist im Wesentlichen im Raum der lateinischen Kirche entstanden – und primär in den Gebieten, die zunächst protestantisch waren.“ Ganz anders in Frankreich: Dort versuchte der aufgeklärte, religiös neutrale Staat, die Religion in ihre Grenzen zu weisen.
Luther kam aus dem spätmittelalterlichen Mönchstum und studierte bei Wilhelm von Ockham, der die menschliche Willensfreiheit betonte. Ebenfalls prägend war für ihn die Mystik, die das göttliche Prinzip im Menschen selbst verortete und nicht in äußeren Handlungen wie einer Liturgie. Die neuzeitliche Selbstgewissheit des Menschen geht auf Luther zurück. Allerdings ist diese Freiheit nicht von Dauer, sondern wird innerhalb des Protestantismus über die Jahrhunderte institutionstheoretisch eingehegt. Viel blieb von der großen Freiheit im lutherisch geprägten Deutschland des 19. Jahrhunderts nicht mehr übrig. Warum? Der Staat übernahm. Nationalstaat und Protestantismus verschmolzen zu einer Einheit, die – nationalistisch aufgeladen – im 20. Jahrhundert auch gegen die Demokratie der Weimarer Zeit mobil machte. Eine Entwicklung, die im Dritten Reich dazu führte, dass sich ein Teil der Lutheraner den Nationalsozialisten andiente und sogar Luthers Judenhass wiederkäute. In dieser Epoche habe „Luther“ seine Unschuld verloren, sagt Ruhstorfer. Luther sei ein Kind seiner Zeit und lasse sich eben nicht ohne Weiteres aktualisieren. „Er hatte große Gedanken. Diese Gedanken hatten aber auch Schattenseiten.“
Eine formbare Burg
Verrückt, was sich aus einem Kirchenlied alles herauslesen, oder besser: in ein Lind hineininterpretieren, lässt. Als Martin Luther im frühen 16. Jahrhundert den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ verfasste, hatte er allein die Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen vor Augen. In seiner religiösen Vorstellungswelt musste der Gläubige tagtäglich gegen das Böse, den Teufel, die Sünde ankämpfen. Gott war dem Menschen ein Zufluchtsort, eine „feste Burg“. „Um diesen inneren Kampf zu beschreiben, hat Luther sich einer militärischen Metaphorik bedient, in der auch immer wieder Begriffe wie ‚Wehr‘, ‚Waffen‘ und ‚Feinde‘ fallen“, sagt Dr. Dr. Michael Fischer, Geschäftsführender Direktor des universitären Zentrums für Populäre Kultur und Musik. Fischer hat sich Luthers Vertrauenslied genauer angesehen, dessen Botschaft im Laufe der Jahrhunderte zunehmend säkularisiert wurde. „Die Vertikale wurde in die Horizontale gewendet“, so drückt es Fischer aus. Das Oben und Unten wurde gekippt, böse war man jetzt nicht mehr unten in der Hölle, sondern böse waren die konfessionellen Gegner und später die Franzosen oder die Russen. Das Lied sei also erst konfessionalisiert und dann nationalisiert worden.
Poetologisch ist Luthers Lied ein starkes Stück. Obwohl es im 16. Jahrhundert geschrieben wurde, funktionierte es auch noch 400 Jahre später. Nur eben anders. Die gottwidrige Macht ist nicht mehr der Teufel, sondern der „Erbfeind“, also Frankreich. Ethisch allerdings, wendet Fischer ein, habe „der Text Missbrauch Tor und Tür geöffnet“. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs war „Ein feste Burg ist unser Gott“ stark verbreitet, das Lied wurde immer noch gesungen, vor allem aber – zumindest auszugsweise und häufig auch in veränderter Form – auf Postkarten, in Büchern und Kleinschriften abgedruckt sowie in Ansprachen und Predigten zitiert. Luthers Choral gebe es sogar auf Schellack, sagt Fischer. Und auf echtem Rosenthaler Porzellan. An der Wand hinter Fischers Schreibtisch hängt ein Wandteller aus dem Jahr 1917, darauf zu sehen: Luthers Kopf und ein Schriftzug aus dem Lied. Den Freiburger Wissenschaftler wundert vor allem, wie breit das Lied gestreut wurde: „Er ist wie eines Sturmwinds Sausen, der mächtige Ein feste Burg-Choral / Der deutschen Eiche herrlich Brausen, in Not und Nacht und Kriegswetterstrahl“, heißt eine Strophe aus einem Gedicht, das zum 31. Oktober 1917, also pünktlich zum 400. Jahrestag von Luthers Thesenanschlag, in der Liller Kriegszeitung erschien. Nationaler geht fast nicht.
Im Ersten Weltkrieg – 400 Jahre nach der Entstehung des Liedes „Ein feste Burg ist unser Gott“ – wurde es für nationalistische Propaganda eingesetzt.
Quelle: Sammlung Michael Fischer
Gesang im Gottesdienst
Aus heutiger Sicht erscheint Martin Luther als Revolutionär, der eben mal schnell aus einer Kirche zwei machte. Den glatten Schnitt gab es so aber nicht, noch nicht einmal bei der Form des Gottesdienstes. Einer, der das wissen muss, ist der Freiburger Musikwissenschaftler Prof. Dr. Konrad Küster. Die Auffassung, Luther habe der Gemeinde im Gottesdienst eine Stimme gegeben, sei falsch. „Das ist eine nachträgliche Projektion von Theologen des 18. Jahrhunderts, die im Zuge der Aufklärung den barocken Schwulst der großen Kirchenmusik loswerden wollten.“ Interessant daran: Die Lutheraner des 18. Jahrhunderts reagierten damit auf den strengen Calvinismus. In dessen Gottesdiensten wurden nur Lieder gesungen: Nachdichtungen der biblischen Psalmen. Das kam den lutherischen Theologen plausibel vor, und sie unterstellten Luther, dass schon er eine solche einfache Musik favorisiert habe. „Luther hatte zwar vor, lateinische Gesänge ins Deutsche zu übertragen, allerdings nicht mit der Absicht, das einfache Volk während des Gottesdienstes singen zu lassen“, erläutert Küster. Auch Luther ließ in der Messe lieber Profis singen.
Anders als heute wurde damals die komplette Messe gesungen – mit Ausnahme der Predigt, die gesprochen wurde. Meistens sang der Pfarrer abwechselnd mit dem örtlichen Schulmeister und dessen Schülern. Und die Gemeinde hatte gefälligst zuzuhören. In Sachen Kirchenmusik sah Luther keinen Handlungsbedarf. Im Gegenteil: Die alten gottesdienstlichen Gesänge wurden von ihm in die moderne Messe integriert. Wozu auch ändern? Der mit vielen biblischen Inhalten gespickte gregorianische Choral aus dem frühen Mittelalter zum Beispiel entsprach genau Luthers Vorstellung. Und die Kompositionen von Josquin des Préz, einem Katholiken, klangen für Luther wie das göttliche Wort. Erst im auslaufenden 17. Jahrhundert, also etwa 150 Jahre nach Luthers Tod, entwickelte sich im Gottesdienst ein regelrechtes Gemeindelied. „Der Übergang fand in einem großen Zeitfenster statt“, sagt Küster. Und die vielen geistlichen Lieder, die Luther übersetzte, komponierte und textete? „Die waren für die Schule da, für zu Hause, auch für die Straße, aber kaum eines für die Kirche.“ Dem persönlichen Glauben habe Luther ohnehin mehr Bedeutung beigemessen als dem Gottesdienst.
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Argumente für den Brexit
Was hat Martin Luther mit dem Brexit zu tun? Auf den ersten und zweiten Blick vielleicht nichts. Es lohnt sich aber, ein drittes Mal hinzuschauen. Denn ohne die Person Luthers und die enorme Wirkung, die die Reformation im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation entfaltet hat, hätten sich die reformatorischen Bewegungen in den Nachbarländern kaum durchsetzen können. Auch in England nicht, wobei dessen König Heinrich VIII. Luthers Lehre zeitlebens ablehnte, erklärt der Historiker Prof. Dr. Ronald G. Asch: „In England geht die Reformation auf die königliche Entscheidung Heinrichs VIII. zurück. Theologisch war Englands König aber kein Protestant – es ging ihm vielmehr um das königliche Kirchenregiment.“ Um die Trennung von Rom zu vollziehen, setzte Heinrich VIII. in den 1530er Jahren eine Reihe von Reformationsgesetzen durch. Eines davon ist der „Act in Restraint of Appeals“ aus dem Jahr 1533. Darin heißt es „This realm of England is an empire ...“ England, ein Kaiserreich. Oder, anders ausgedrückt: Über uns steht keiner. Kein weltlicher oder geistlicher Herrschaftsträger und erst recht nicht der Papst.
Dieses Zitat machte der konservative britische Abgeordnete John Redwood, ein Kritiker der Europäischen Union (EU), zur Überschrift eines Beitrags, den er im Juni 2012 auf seinem Blog veröffentlichte. Für Redwood und andere Brexiteers, so die Erklärung Aschs, sei die Unterordnung unter Brüssel ein Verrat an der mit der Reformation begründeten englischen Verfassungstradition gewesen: „Es war dieser Bruch mit Rom, der den Gedanken einer unbedingten Souveränität des King-in-Parliament etablierte, der bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine der Grundlagen der ungeschriebenen Verfassung Englands war.“ Diese absolute Souveränität solle mit dem Brexit wiederhergestellt werden. Der Stolz auf spezifisch englische Traditionen habe bei der Kampagne gegen die EU-Mitgliedschaft eine wichtige Rolle gespielt. Dieser Geschichtserzählung hätten die Gegnerinnen und Gegner des Brexits nichts Vergleichbares entgegensetzen können. Allerdings wird Heinrich VIII. auch von den Gegnern der aktuellen Premierministerin Theresa May wieder herangezogen – etwa in der Debatte über das Brexit-Gesetz. May wolle heute so absolut regieren wie damals Heinrich VIII., so der Vorwurf. „Das ist natürlich polemisch gemeint“, sagt Asch. „Es macht aber deutlich, wie Geschichte auch heute noch wirkt.“
England, ein Kaiserreich: Heinrich VIII. brach in den 1530er Jahren mit Rom und dem Papst – dabei lehnte der englische Monarch Luthers Lehre zeitlebens ab.
Foto: Walker Art Gallery via Wikimedia Commons, public domain