Der Klang der Küste
Freiburg, 10.07.2019
Kulturgeschichte und Klimaschutz – für Prof. Dr. Konrad Küster ist das eine ohne das andere künftig in Gefahr. Der Freiburger Musikwissenschaftler erforscht seit 25 Jahren die Orgellandschaft der Nordseeküste zwischen Süddänemark und den nördlichen Niederlanden. Dabei treibt ihn auch die Frage um, was mit den traditionsreichen Instrumenten passiert, sollten Kirchen infolge des Klimawandels überschwemmt werden. Dietrich Roeschmann hat sich mit Küster über die soziale Funktion der Orgeln und über den Schutz der musikhistorisch bedeutsamen Gebiete unterhalten.
An der Küste stellten die Menschen Kirchen mit einer Orgel an den höchsten Punkt der Landschaft. Der steigende Meeresspiegel jedoch könnte für die Kulturgüter zur Gefahr werden. Foto: Fotolyse/stock.adobe.com
Herr Küster, Sie beschäftigen sich als Musikwissenschaftler mit dem Klimawandel. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Konrad Küster: Sehr viel. Der Klimawandel lässt den Meeresspiegel ansteigen und bedroht über Jahrhunderte gewachsene Kulturregionen existenziell. Ich habe meine Habilitationsschrift über venezianische Musik geschrieben. Venedig ist ohne das Meer nicht denkbar. Ebenso wenig das Marschland an der Nordseeküste, wo ich seit 25 Jahren die Orgellandschaft zwischen Süddänemark und den nördlichen Niederlanden erforsche. Das sind heutzutage strukturschwache Regionen, die einst sehr wohlhabend waren. Die Menschen dort waren weitgehend auf sich gestellt. Das hat Folgen, wenn man sich mit der Musikgeschichte dieser Gegend befasst. Denn das Material, an das man bei Musik als erstes denkt, gibt es dort kaum: Noten.
Warum nicht?
Zunächst einmal fiel die Entstehung der Orgellandschaft an der Nordsee in eine Zeit, über die aus Dörfern kaum Schriftquellen vorliegen. Das, was man erfährt, stammt aus Berichten Auswärtiger oder aus Chroniken. Und die Organisten haben ihre Musik fast immer improvisiert; sie spielten also gar nicht nach Noten.
Wie lässt sich daraus so etwas wie eine Klanglandschaft des Küstenraums an der Nordsee erstellen?
Man muss herausfinden, welche Funktion die Musik im Leben der Menschen hatte. Dabei zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Orgel ab dem frühen 16. Jahrhundert tatsächlich die Krone dieser Landschaft war. Die Friesinnen und Friesen hatten – ähnlich wie die Schweizer Eidgenossinnen und -genossen – nie einen Herren. Dafür hatten sie fruchtbares Land, auf dem sie Milchprodukte, Rindfleisch und Getreide produzierten. Diese Nahrungsmittel vermarkteten die Friesen direkt in den aufblühenden Metropolen. In ihnen erlebten sie wiederum die imposanten Orgeln. So etwas wollten sie auch haben, und so schaffte sich ab etwa 1450 jedes Dorf seine eigene Orgel an.
Ab etwa 1450 hatte jedes Dorf seine eigene Orgel – es entstand eine musikalische Hochkultur für die Breite. Foto: Konrad Küster
Mit welchen Folgen?
Binnen weniger Jahrzehnte entstand gewissermaßen eine musikalische Hochkultur für die Breite, an der alle teilnahmen – auch die Mägde und Knechte. Das ist ein soziales und kulturelles Modell, das bis heute nachwirkt. Diese Tragweite sollten sich die Menschen bewusst machen, wenn sie glauben, es sei in Fragen der Klimafolgenbewältigung in dieser musikhistorisch so bedeutenden Region damit getan, ein paar Orgeln zu retten. Das ist es sicher nicht. Es geht hier um einen gesamtkulturellen und -soziologischen Kontext. Diesen zeigen wir in einer Wanderausstellung auf, die seit 2013 in direkter Nachbarschaft zum Weltnaturerbe Wattenmeer durch den Norden tourt und mittlerweile an mehr als 55 Orten zu sehen war.
Für die Zeit bis 1590 sind in den Küstendörfern an der Nordsee und im direkten Hinterland mehr als 150 Orgeln nachweisbar.
Ja, dieser unglaubliche Reichtum überrascht vielleicht. Man darf nicht vergessen: Ein Bild oder ein Altar kostet zwar viel Geld, eine Orgel aber kostet nicht nur, sondern braucht darüber hinaus auch ständige Betreuung. Sie muss gestimmt und gewartet werden, die Orgelspielerin oder der Orgelspieler sowie die Bälgetreterin oder der Bälgetreter müssen bezahlt werden. Eine Orgel in eine Kirche zu stellen war immer eine teure, folgenreiche Entscheidung – erst Recht, weil die Menschen die Unberechenbarkeit des Meeres kannten.
Wie gingen sie mit diesem Risiko um?
Sie bauten Deiche und stellten die Kirchen mit den Orgeln an die höchsten Punkte der Landschaft. Viele überstanden so auch Sturmfluten, die als lokale Naturkatastrophen Tausende von Toten forderten. Man kennt sogar den Extremfall, dass Siedlungen aufgegeben werden mussten. Die Überlebenden haben jeden Balken und jeden Feldstein mitgenommen – den Altar, die Glocken, das Orgelwerk – und woanders wieder aufgebaut. Heute heißt das „Relocation“. Aber zum Glück waren das nur Einzelfälle. Im Prinzip waren alle Risiken mitbedacht worden. Und deshalb gibt es in der Gegend heute die älteste Orgellandschaft der Welt.
Die Politik und jeder Einzelne müssen durch ein nachhaltiges Handeln dem Verlust ganzer Bereiche der Kultur entgegensteuern, meint Konrad Küster. Foto: Ingeborg F. Lehmann
Diese ist nun durch den steigenden Meeresspiegel bedroht. Die Prognose ist denkbar ungünstig: Immerhin liegt ein Drittel der Niederlande unter Normalnull und weite Teile des norddeutschen Marschlandes oft nur wenige Zentimeter darüber. Was ist zu tun?
Die Folgen des Klimawandels sind spürbar. Wir müssen erkennen, dass für diese Gebiete das Gleiche gilt wie für Venedig, die Jazz-Stadt New Orleans, die Malediven, die Eisbären. Wir müssen also dringend durch unser Verhalten gegensteuern, ebenso durch eine Politik, die der akuten Gefahr des Verlusts ganzer Bereiche unserer Kultur durch kluges, nachhaltiges Handeln entgegentritt. Zwei Dinge werden sicher nicht funktionieren: Weder die Relocation all der an kulturellem Erbe so reichen küstennahen Regionen an sichere Orte im Landesinnern, noch der Wiederaufbau einer kaputten Welt mithilfe von außen, wie dies nach Kriegszeiten geschah. Denn diesmal gibt es kein Außen. Angesichts des Klimawandels sitzen wir alle im selben Boot. Deshalb sollten wir alles dafür tun, die Marke von 1,5 Grad Celsius bei der Erderwärmung nicht zu überschreiten.
Welche Folgen hätte ein Scheitern dieses Klimaziels für die Musik?
Neben der faktischen Bedrohung von historischen Bauwerken wie Kirchen oder Aufführungsorten in Küstennähe durch Überschwemmungen dürfte nicht nur die Musik, sondern die allgemeine Kulturpflege erheblichen Schaden nehmen. Je mehr Geld in die Bewältigung von Klimafolgen gesteckt werden muss, desto weniger wird im Kulturbereich ankommen. Über kurz oder lang würden wir damit die Möglichkeit verlieren, uns in die einzigartigen und unterschiedlichen Imaginationsräume der Musik, Kunst oder Literatur fallen zu lassen, den Kopf frei zu kriegen, die Seele baumeln zu lassen.
Was sagen Sie Ihren Studierenden?
Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass Musikwissenschaft eben nicht nur im Elfenbeinturm stattfindet, sondern ihren Ort in der Welt hat. Auch Kulturgeschichte kann eine kritische Masse für den Klimaschutz produzieren, indem sie zeigt, was für immer verschwinden wird, wenn wir jetzt nicht handeln. Dabei kann auch die Musikforschung ihren Beitrag leisten, und zwar außerordentlich konkret. Der Verbund „Scientists for Future”, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler organisiert sind, hat einen neuen Austausch für die Fachdisziplinen geschaffen. Auf diesen sind wir beim Blick auf die kulturellen Folgen des Klimawandels angewiesen. Das schafft ein neues Geben und Nehmen beim Argumentieren, und damit lassen sich Positionen, die man sonst vielleicht nur als Einzelne oder Einzelner vertreten würde, auf eine deutlich breitere Grundlage stellen.