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Das ist keine Sünden-Checkliste

Die Theologin Carolin Neuber erklärt, warum die Zehn Gebote häufig missverstanden werden – und wie sie eigentlich gemeint waren

Freiburg, 15.12.2020

Die Zehn Gebote gehören zu den bekanntesten Texten der Bibel: von „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“ über „Du sollst nicht das Haus Deines Nächsten begehren“ bis hin zu „Du sollst nicht die Ehe brechen“. Trotzdem werde der Kern des Textes oft missverstanden, sagt die Theologin Dr. Carolin Neuber, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Alttestamentliche Literatur und Exegese der Universität Freiburg. In dem kürzlich erschienenen Sammelband „Bibel falsch verstanden“ hat sie dargestellt, warum die Zehn Gebote gar kein reiner Verbote-Katalog sind. Thomas Goebel hat mit ihr gesprochen.

Zwei Tafeln, die nach Themen getrennt sind: Auf der einen Seite befinden sich die Gebote, die auf Gott bezogen sind, auf der anderen stehen die Weisungen für ein zwischenmenschliches Miteinander. Foto: James Steidl/stock.adobe.com 


Frau Neuber, Sie sagen, die Zehn Gebote würden oft als „Sünden-Checkliste“ missverstanden. Sind sie das denn nicht?

Carolin Neuber: Nein, denn es geht in den Zehn Geboten erstmal gar nicht um Sünde und schon gar nicht um eine Checkliste, sondern um eine Orientierung fürs Leben. Wenn man schaut, wo die Zehn Gebote in der Bibel verortet sind, wird die Perspektive viel weiter.

Was ist das für eine Perspektive?

Gleich im ersten Satz steht die Selbstvorstellung Gottes: „Ich bin der HERR, Dein Gott, der Dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ Diese Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei endet ja nicht damit, dass die Israeliten in der Wüste sitzen bleiben. Die Perspektive ist das Leben im verheißenen Land. Die Zehn Gebote braucht es als Orientierung für die Frage: Wie gestalten wir jetzt die Freiheit, die wir neu gewonnen haben?

Und welche Orientierung geben die Gebote für das Leben in Freiheit?

Eine doppelte: Wir haben Gebote, die auf das Verhältnis zu Gott zielen, und Gebote, die auf das Verhältnis zu den Mitmenschen zielen. Die teilt man gerne auf die beiden Tafeln auf, von denen es heißt, dass Mose sie bekommen hat. Aber damit trennt man sie eigentlich zu stark. Die theologischen und die gesellschaftlichen Gebote gehören in der Bibel ganz eng zusammen. Ohne den Gottesbezug kann man mit den Mitmenschen nicht gut auskommen, und der ganze Gottesbezug nutzt wiederum nichts, wenn man mit den Mitmenschen nicht gut auskommt. Die Befreiung aus der Sklaverei ist zum einen eine Befreiung für den Dienst an Gott. Und zum anderen geht es um die Rechte der Mitmenschen, etwa das Recht auf Leben, auch auf Besitz. Die Israeliten kommen aus der Sklaverei, daran sollen sie sich erinnern. Der weitere Kontext, in dem die Gebote stehen – das sind die Bücher Exodus und Deuteronomium – zeigt außerdem, dass es dabei vor allem um den Schutz der Schwachen am Rand der Gesellschaft geht.

Sind die Zehn Gebote also eigentlich eine Art Warnung vor dem Recht des Stärkeren?

Die Bibel sieht den Menschen, wie er ist – das merkt man spätestens, wenn man liest, wie Kain Abel erschlägt. Um die geschenkte Freiheit zu bewahren und sich nicht wieder gegenseitig zu unterdrücken, brauchen die Menschen offensichtlich „Weisungen“. So könnte man das Wort „Tora“ übersetzen. Das Buch Deuteronomium macht darüber hinaus ganz klar, dass es gerade um den Schutz der Schwachen, der „personae miserae“ geht. Das sind im Alten Testament zum Beispiel die Witwen und Waisen, die Armen und die Fremden. Und es hat insgesamt eine geschwisterliche und damit sehr soziale Sicht auf die Gesellschaft. Das wird in vielen Einzelbestimmungen ausgeführt, etwa, dass man keinen Zins nehmen oder jemanden nach sieben Jahren wieder aus der Schuldsklaverei entlassen soll.

Gott nennt sich selbst in den Zehn Geboten einen „eifersüchtigen Gott“, der sagt: „Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation.“ Wie passt das zu dem Ideal einer friedlichen, geschwisterlichen Gesellschaft, das Sie beschreiben?

Es ist die Frage, wie man „eifersüchtig“ versteht. Gemeint ist jedenfalls kein wütender Gott, der wild um sich schlägt, so wie er manchmal als „alttestamentarischer Gott“ beschrieben wird – übrigens ein Begriff, den die Nazis in antisemitischer Absicht verwendeten. Man sollte vielleicht genauer von einem eifernden, leidenschaftlichen Gott sprechen, dessen Leidenschaft der Gerechtigkeit gilt und der zornig wird – das ist etwas Anderes als wütend –, wenn jemand zum Beispiel den Schutz der Schwachen verletzt. Dann schreitet er ein. Und vergessen Sie nicht, was im Text danach kommt: Tausenden erweist Gott Huld! Diese positive Seite wird meist übergangen.

Der Kerngedanke der Zehn Gebote ist anschlussfähig an die moderne Gesellschaft, findet Carolin Neuber: „Wie bewahren wir die Freiheit, die uns geschenkt ist – und zwar für alle, nicht auf Kosten der Schwachen?“ Foto: Patrick Seeger

Und die dritte und vierte Generation?

Das ist die Großfamilie, in der vielleicht eine schlechte Orientierung herrscht, die sich auf die folgenden Generationen auswirkt. Das „Heimsuchen“ im Text ist nicht gleich als Bestrafung zu verstehen: Gott prüft, ob sich die dritte und vierte Generation auch schuldig macht, weil sie sich an ihren Eltern und Großeltern orientiert – und nur dann straft er sie. Hinter dem Konzept der Strafe steckt im Alten Testament übrigens kein Rachegott, sondern der Gedanke: Wenn du gut handelst, wird es dir auch gut ergehen, und wenn du schlecht handelst, wird es dir schlecht ergehen. Das ist der altorientalische Tun-Ergehen-Zusammenhang, der von Gott aufrechterhalten wird. Ich finde, dieser Gedanke ist anschlussfähig an die moderne Soziologie, wo es ein ähnliches Konzept gibt: Wir sind alle miteinander vernetzt, und unser Handeln hat Folgen – nicht nur für uns, sondern auch für unser Umfeld. Dafür muss man gar nicht an Corona denken...

Aber der Gedanke liegt ja wirklich nahe: Auch bei den Corona-Maßnahmen ist oft von Geboten die Rede – und vom Schutz der Schwachen…

Genau, wir versuchen Risikogruppen zu schützen, indem wir zum Beispiel alle Masken tragen, wir können ja nicht einfach die Altenheime absperren. Das heißt aber nicht, sich einfach nur an starre Regeln zu halten, sondern auch auf die andern zu achten und zu schauen, wer in welcher Situation welchen Schutz braucht. Für eine solche Haltung gibt es tolle Beispiele im Buch Deuteronomium: Die Häuser hatten damals ja Flachdächer, deshalb steht dort das Gebot, ein Mäuerchen um sein Dach zu bauen. Damit niemand herunterfällt.

Sie haben beschrieben, dass sich die Zehn Gebote auf die konkrete Situation der Israeliten nach der Befreiung aus Ägypten beziehen. Braucht der alte Text heute eine Aktualisierung?

Kommt darauf an, was man darunter versteht. Ein Gebot wie „Du sollst nicht morden“ muss man nicht aktualisieren. Wir könnten uns heute aber den Kontext wieder bewusster machen und stärker herausstellen, dass es um Orientierung für ein gutes Leben geht. Damit könnte man vielleicht auch Nicht-Christen ins Nachdenken bringen: Wie bewahren wir die Freiheit, die uns geschenkt ist – und zwar für alle, nicht auf Kosten der Schwachen? Wenn man das ins Zentrum der Zehn Gebote stellt, hat man wahrscheinlich schon die Aktualisierung.

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