Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken Auf zum Grufti-Gottesdienst

Auf zum Grufti-Gottesdienst

Markus Tauschek mischte sich unter die Besucher auf Gothic-Festivals und deckt auf, welche kulturellen Praktiken die Szene ausmachen

Freiburg, 24.08.2017

Auf zum Grufti-Gottesdienst

Foto: Marina Kugelmann

Klänge von kreischenden Gitarren wabern über der Stadt. In den Straßen tummeln sich Männer und Frauen, in schwarzes Leder und feine Spitze gekleidet. Sie ziehen von Bühne zu Bühne – und hinterlassen Staunen auf den Gesichtern der Einheimischen: Mehr als 20.000 Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt versammeln sich jedes Jahr zum Wave-Gotik-Treffen in Leipzig. Unter sie hat sich 2017 auch der Freiburger Kulturanthropologe Prof. Dr. Markus Tauschek gemischt. In seinem Projekt „Doing Popular Culture. Zur performativen Konstruktion der Gothic Szene“ will er herausfinden, welche Bedeutung solche Festivals für die Szene haben und was in ihrem Umfeld passiert. Dazu betreibt er Feldforschung auf drei deutschen Festivals, wo er Szenemitglieder interviewt. Neben Leipzig stehen auch Köln und Hildesheim auf seinem Reiseplan. Sonja Seidel hat sich mit dem Kulturanthropologen darüber unterhalten, was die Gothic-Szene ausmacht und warum sich Menschen von ihr angezogen fühlen.


Zackenkrone und Zepter: ein Konzert auf dem Wake-Gotik-Festival in Leipzig. Foto: Marina Kugelmann

Herr Tauschek, wie sind Sie dazu gekommen, über die Gothic-Szene zu forschen?

Markus Tauschek: Das war Zufall. Vor einigen Jahren war ich in Leipzig, und die ganze Stadt war voll mit Menschen in schwarzer, zum Teil sehr ungewöhnlicher Kleidung. Ich habe mich damals gefragt, was da eigentlich los sei. Was ich nicht wusste: In Leipzig findet jedes Jahr am Pfingstwochenende das weltweit größte Gothic-Festival statt. Ich habe dann recherchiert, mich eingelesen und Kontakte zur Szene aufgebaut. Es gibt zwar einige soziologische Studien dazu, aber für mich lassen sie viele Fragen offen.

Welche?

Die Studien lassen die Praktiken dieser Kultur außer Acht. Mich interessiert, was auf diesen Festivals genau passiert: Wie handeln die Menschen, und welche Interaktionen gibt es vor Ort? Ich will herausfinden, wie sich die Szene über die Festivals konstituiert und dabei auch immer wieder verändert. Bei dem Festival in Leipzig zum Beispiel lassen sich viele unterschiedliche kulturindustrielle Angebote beobachten. Es gibt dort Ausstellungen, Lesungen, Verkaufsmessen, einen Grufti-Gottesdienst, Konzerte und Partys. Und das Ganze hat auch einen Volksfestcharakter.


Forschung über Populärkultur lässt auch Aussagen über eine Gesellschaft zu, betont Markus Tauschek. Foto: Klaus Polkowski

Wodurch zeichnet sich die Szene denn aus?

Sie ist sehr vielfältig. Es gibt zahlreiche Untergruppierungen wie beispielsweise die Neoromantics oder die Steampunks – sie alle haben einen unterschiedlichen Kleidungsstil und Musikgeschmack. Es wird untereinander auch so etwas wie Differenzmanagement betrieben: „Wir sind die richtigen Szenemitglieder, die andere gehören nicht dazu.“ Ein gemeinsames Merkmal aber ist die Berufung auf die Farbe Schwarz. Es lassen sich außerdem eine starke Betonung von Körperlichkeit beobachten und ein sehr bewusster Umgang mit dem eigenen Körper; mitunter werden auch Geschlechterrollen über Kleidungsstile zumindest zeitweise infrage gestellt. Auch eine Berufung auf das Düstere, das Nachdenken und Sprechen über den Tod sind Merkmale. Aber da sind wir auch schon an einem Punkt, der sich nicht für alle Gothics behaupten lässt. Anderen dient die Szene auch einfach als ein Forum des ästhetischen Erlebens.

Spielt Selbstdarstellung demnach eine große Rolle?

Ja, das lässt sich auf den Festivals feststellen. Es sind dort viele professionelle Fotografen unterwegs, es geht viel darum, gesehen zu werden – manchmal kommt man sich regelrecht wie auf einem Catwalk vor. Aber es gibt auch eine andere Seite: In der Gothic-Kultur wird sehr kritisch über die Gesellschaft nachgedacht. Was für unsere Forschung interessant ist, ist die Tatsache, dass sich außerdem zwei politische Lager in der Szene beobachten lassen: ein linker Teil, der bewusst antifaschistisch ist und sich gegen rechtes Gedankengut einsetzt, und ein Teil von Szenemitgliedern, die rechte Musik hören. Diese Akteurinnen und Akteure treffen sich im Rahmen eines Festivals und bilden gemeinsam für eine bestimmte Zeit ein Kollektiv – natürlich auch mit Konflikten, die allerdings oft erst danach, beispielsweise in den sozialen Medien, ausgetragen werden. An diesem Punkt wird unsere Forschung auch politisch höchst relevant.


Die Festivals bieten den Besuchern unterschiedliche kulturindustrielle Angebote – darunter Messen, auf denen Möbel verkauft werden. Foto: Marina Kugelmann

Lassen sich daran, wie sich dieses Kollektiv verhält, allgemeine Aussagen über die Gesellschaft treffen?

Ich denke schon. Man kämpft in der Forschung zur Populärkultur, zu der auch die Gothics gehören, bisweilen immer noch gegen den Anschein des Unseriösen – das hat sicher auch etwas mit dem Wissenschaftsverständnis in Deutschland zu tun. Dabei sind gerade populäre Kultur und Musik heute wichtiger als je zuvor; sie prägen den Alltag vieler Menschen. Populäre Kultur verrät viel darüber, wie Gesellschaft heute funktioniert. Die Art und Weise, wie Menschen sie konsumieren, sagt viel darüber aus, wie sich diese selbst sehen. Es ist außerdem so, dass man etwas über die Kultur der breiten Masse lernt und ganz generell über gesellschaftliche Veränderungen, wenn man sich kleine gesellschaftliche Gruppen anschaut, die sich als Gegenkultur begreifen.

Welche Bedeutung haben die Festivals für diese gesellschaftlichen Gruppen?

Unsere Ausgangsthese ist, dass Festivals die Funktion haben, die Szene zu stabilisieren und sie gleichzeitig zu transformieren. Die Mitglieder können sich mithilfe dieser immer wieder vergewissern: „Wir sind Bestandteil einer großen Familie.“ Außerdem helfen die Festivals der Szene, sich nach außen abzugrenzen. Gothics fallen in unserem Alltag auf, da sie unter anderem anders gekleidet sind. Sie erleben eine Differenzerfahrung. Auf den Festivals erfahren sie gewissermaßen das Gegenteil: Zusammengehörigkeitsgefühl. Was man auch nicht unterschätzen darf, ist das gemeinsame Feiern und Tanzen, die Erfahrung, den eigenen Körper und sich selbst zu spüren – und das über mehrere Tage, in denen die Besucher wenig Schlaf haben und die ganze Zeit Konzerte hören. Dieser andere Tagesrhythmus macht auch etwas mit dem Körper.


Violettes Paar: Die Mitglieder der vielfältigen Gothic-Szene haben einen betonten Umgang mit Körperlichkeit und die Liebe zu extravaganten Kleidungsstilen gemeinsam. Foto: Marina Kugelmann

Warum wird denn jemand Gothic?

Viele, mit denen ich gesprochen habe, sind durch Zufall in die Szene gerutscht. Viele kamen auch durch das Infragestellen der Gesellschaft und des eigenen Lebens dazu. Aber es gibt auch andere Fälle: Ich habe ein sehr beeindruckendes Gespräch mit einem Mann geführt, der erst mit Mitte 60 Teil der Szene wurde. Für ihn war es offensichtlich eine Plattform, auf der er eine Identität kreieren und ausleben konnte. Es ist also schon eine Art von Gegenwelt zum Alltäglichen, die es einem ermöglicht, eine andere Seite des eigenen Ichs auszuleben.

Widerstrebt es den Gothics dann nicht eher, zum Forschungsobjekt zu werden?

Das dachte ich am Anfang auch. Ich habe befürchtet, dass es schwer werden würde, Interviewpartnerinnen und -partner zu finden. Das Gegenteil war der Fall. Alle waren extrem aufgeschlossen. Viele Leute haben sich auch bei mir und meiner Mitarbeiterin gemeldet, so nach dem Motto: „Wir haben uns doch auf dem Festival getroffen, Sie wollten mich interviewen, melden Sie sich mal.“ Das habe ich bei anderen Forschungsprojekten bisher nicht erlebt. Ich glaube, es hat auch mit dem Bedürfnis vieler Gothics zu tun, das Bild, das sonst von ihnen in den Medien vermittelt wird, mit Unterstützung der Forschung geradezurücken.