Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin forschen & entdecken Auf nach Amerika!

Auf nach Amerika!

Im 19. Jahrhundert träumten viele Deutsche von einem besseren Leben jenseits des Atlantiks – sie flohen nicht nur vor Krieg und Armut, sondern auch vor Klimaextremen

Freiburg, 14.12.2017

Auf nach Amerika!

Quelle: Wikimedia Common/gemeinfrei

Mehr als fünf Millionen Deutsche emigrierten im 19. Jahrhundert nach Nordamerika. Prof. Dr. Rüdiger Glaser vom Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie ist davon überzeugt, dass sie nicht nur vor Armut, Krieg und Revolution flohen. Er und sein Team haben unter anderem Auswanderungs- und Bevölkerungsstatistiken, Wetterdaten und Weizenpreise aus dem süddeutschen Raum untersucht und kamen zu dem Schluss: Bis zu 30 Prozent der Migrationszahlen lassen sich auf Klimaextreme zurückführen. Sonja Seidel hat sich mit Glaser über den Zusammenhang von Klima, steigenden Weizenpreisen und Migration unterhalten.


Deutsche Emigranten betreten um 1850 ein Dampfschiff in Richtung New York City/USA. Quelle: Wikimedia Common/gemeinfrei

Herr Glaser, schon um 1700 emigrierten die ersten Deutschen nach Amerika. Warum haben Sie sich mit der Auswanderung im 19. Jahrhundert beschäftigt?

Rüdiger Glaser: Verschiedene Gründe machen das Jahrhundert aus wissenschaftlicher Sicht sehr spannend. Zum einen ist die Auswanderung von Europa nach Nordamerika in dieser Zeit die in absoluten Zahlen größte in der Geschichte – auch nach heutigen Dimensionen. Zum anderen reicht die Kleine Eiszeit in das Jahrhundert hinein; eine natürliche Klimaschwankung, die für kühle Temperaturen sorgte. Sie geht in die Zeit der vom Menschen verursachten Klimaveränderungen über. Und schließlich passiert auch politisch viel: die Napoleonischen Kriege, Revolutionen, die deutsche Reichsgründung. Dazu kommen viele soziale Entwicklungen wie der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft.

Welche Rolle spielte das Klima bei der Auswanderung?

In der Forschungsliteratur hat man die Migration bisher überwiegend mit den politischen und sozialen Veränderungen erklärt, also beispielsweise mit dem Bevölkerungsdruck, was natürlich auch zutrifft. Wie wir in unserer Studie zeigen, war allerdings das Klima ein indirekter Treiber der Auswanderungswellen. Wir haben festgestellt, dass sich bis zu 30 Prozent der Migrationszahlen aus dieser Zeit auf Klimaschwankungen zurückführen lassen. Es gab also eine Wirkungskette von Klima, Erntemenge über die Preisentwicklung auf die Migration.

02f7f1a75f5178f9a76eb080579bece0


Wie ist diese Wirkungskette abgelaufen?

Der Witterungsverlauf hat die Ertragsmenge beispielsweise von Weizen beeinflusst. So auch im Jahr 1846, in dem auf einen zu trockenen und heißen Sommer eine sehr schlechte Ernte folgte. Das führte wiederum dazu, dass die Preise für Lebensmittel in die Höhe stiegen. Viele Menschen litten Hunger, dazu kam die latente Armut und Perspektivlosigkeit; ein Faktorenbündel, das viele so sehr unter Druck setzte, dass sie das Land verlassen wollten. Als Pull-Faktor, also als Anreiz, kam das Bild hinzu, dass die Menschen von einem Leben in Amerika hatten.

Sie erhofften sich ein Leben in Freiheit?

Die religiöse, politische und ökonomische Freiheit war ein wichtiges Motiv. In Deutschland erlebten die Menschen nach dem Wiener Kongress 1815 zunehmend Repressionen. Mit ihm wurde eingedämmt, was es zuvor an Demokratieansätzen gegeben hatte. In Nordamerika dagegen war die persönliche Freiheit schon mehr verwirklicht. Die Perspektive, Land zu besitzen und ein eigenes Geschäft aufzuziehen, hatte beispielsweise auf die deutschen Auswanderinnen und Auswanderer eine große Anziehungskraft. Allerdings gab es die Klimaschwankungen auch in Nordamerika.

Lassen sich Ihre Ergebnisse auf die heutige Klimadiskussion übertragen?

Unsere Ergebnisse stehen erst einmal in dem untersuchten historischen und gesellschaftlichen Kontext für sich. Aber wir verstehen nun viel besser, wie all die Faktoren zusammenwirken. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert greifen einfache Erklärungsmuster in der heutigen Klimadiskussion nicht; wir haben es mit vielen Faktoren zu tun, die komplex zusammenwirken. Schauen wir uns zum Beispiel den Konflikt in Syrien an: Dieser lässt sich  auf den Arabischen Frühling zurückführen, der wiederum auch durch Preissteigerungen beim Brot und durch Lebensmittelengpässe angestoßen wurde. Dürren in den Jahren 2010 und 2011 hatten zuvor zu einer weltweiten Weizenknappheit und ansteigenden Preisen in Ägypten geführt. Die Frustration darüber hat sich neben anderen Gründen auch im Arabischen Frühling geäußert. Und dann kam diese unsägliche Kaskade in Gang, die letztlich zum Bürgerkrieg und all den Verwerfungen im Vorderen Orient geführt hat.


Einfache Erklärungsmuster greifen in der heutigen Klimadiskussion nicht, sagt Rüdiger Glaser. Foto: Thomas Kunz

Wird es also auch zukünftig Klimaflüchtlinge geben?

Besonders im subsaharischen Raum wirkt der Klimawandel auf die Ernährungssicherung, auf die Wasserverfügbarkeit und letztendlich auf die Gesundheit der Menschen. Kommt dann noch politische Instabilität, latente Armut und allgemeine Perspektivlosigkeit dazu, entscheiden sich viele von ihnen wegzugehen. Oft zuerst von ländlichen in städtische Räume, aber dann auch weg aus dem Land in Teile der Welt, die Sicherheit, eine Perspektive und Wohlstand versprechen. So wie im 19. Jahrhundert Europa das Quellgebiet für die Auswanderung nach Nordamerika war, ist Europa nun das Zielgebiet, in das die Flüchtenden ihre Hoffnung setzen.

Was ist die Lösung?

Wir haben eine globale Verantwortung: Die Gründe, die zu Auswanderung führen, dürfen wir erst gar nicht aufkommen lassen. Ein Nord-Süd-Dialog, der diese Probleme adressiert,  verstärkte Entwicklungsarbeit, die Sicherung von Nahrung, Gesundheit, Partizipation und Bildung sowie politische und ökonomische Stabilität  – kurz die Aussicht auf eine Perspektive – sind Grundvoraussetzungen. Das alles ist schon seit Jahren bekannt, aber durch die Flüchtlingsströme bekommen diese Ansätze eine neue Dringlichkeit. Viele haben die Hitzewelle im so genannten Jahrhundertsommer 2003 schon längst wieder vergessen: In diesem Jahr gab es aufgrund des Klimas 50.000 Tote in Mitteleuropa. Wir sollten uns also darüber bewusst werden, dass auch wir nicht unverwundbar sind.