An der Schnittstelle des Lebens
Freiburg, 28.08.2020
Über eine grundlegende Frage streiten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon lange: Wird die Persönlichkeit eines Menschen von seinen Genen oder seiner Umwelt bestimmt? Bis jetzt geht die Wissenschaft davon aus, dass sich beispielsweise das Risiko für psychische Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen aus dem Zusammenspiel von genetischen und umweltbedingten Faktoren ergibt. Angststörungen und affektive Erkrankungen sind zu etwa 30 bis 60 Prozent auf genetische Ursachen zurückzuführen. Zu den umweltbedingten Faktoren zählen zum Beispiel akuter sowie chronischer Stress, der Verlust geliebter Menschen und traumatische Erlebnisse wie Missbrauch. Die Psychiaterin Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke forscht an der Schnittstelle zwischen genetischen Faktoren und Aspekten der Umwelt: Ihr Spezialgebiet ist die Epigenetik, die sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, wie Umwelteinflüsse eine biologische Veranlagung für psychische Erkrankungen aktivieren.
Die Suche nach den Ursachen einer Depression: Wird die Persönlichkeit eines Menschen von seinen Genen oder seiner Umwelt bestimmt? Foto: dodoardo/stock.adobe.com
Epigenetische Mechanismen funktionieren wie Übersetzer zwischen der Umwelt und den Genen: Sie bestimmen, welche Gene aus der DNA abgelesen werden und wie aktiv sie sind. „Unser genetischer Code ist wie ein Buch, dessen Inhalt sich aus vier Buchstaben in unterschiedlichen Kombinationen zusammensetzt. Epigenetische Mechanismen können wir mit Markierungen wie Eselsohren, Unterstreichungen, Fettdruck oder Kursivdruck vergleichen: Sie helfen uns, einen besonderen Fokus auf bestimmte Abschnitte zu richten“, erläutert Domschke, die die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg leitet.
Diese Prozesse finden im menschlichen Erbgut statt und eben auch an Genen, die für psychische Vorgänge relevant sind: Zum Beispiel beeinflussen epigenetische Prozesse Gene, die die Ausschüttung von Serotonin und Noradrenalin steuern, also von Nervenbotenstoffen, die für Stimmung und Antrieb verantwortlich sind. Die meisten epigenetischen Mechanismen sind relativ stabil, das heißt, sie antworten nicht ständig auf Umwelteinflüsse und sorgen so dafür, dass die Abläufe im menschlichen Organismus relativ konstant bleiben.
Biomarker für Erkrankungen
„Selbst kleine epigenetische Veränderungen, die an sich nicht pathologisch sind, können zu Veränderungen in Nervenbotenstoffsystemen führen und damit das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Mit epigenetischen Biomarkern untersucht Domschke Prozesse, die zu psychischen Erkrankungen führen könnten. Sie zeigen zudem an, ob eine Patientin oder ein Patient gut oder schlecht auf eine Therapie anspricht. Neben epigenetischen Mechanismen kommen als Biomarker für psychische Erkrankungen auch Gene, Hormone, Teile des Immunsystems oder des Blutkreislaufs infrage. Die Arbeit mit Biomarkern könnte in Zukunft die Diagnose und die Therapie von psychischen Erkrankungen erleichtern, erklärt die Freiburger Forscherin.
Genetische und epigenetische Vorgänge sind die Basis vieler biologischer Prozesse. In dem Sonderforschungsbereich „Furcht, Angst, Angsterkrankungen“ untersucht Domschke zusammen mit Forschenden, die mit bildgebenden Diagnostikverfahren arbeiten, ob Angststörungen möglicherweise dadurch zu erklären sind, dass die Amygdala, ein Kerngebiet des Gehirns, besonders empfindlich auf Stress reagiert. Mit Blick auf die Endokrinologie, also auf hormonelle und Stoffwechselprozesse, beschäftigen die Forschenden sich beispielsweise mit der Frage, wie sich Stress auf die Ausschüttung von Cortisol im Gehirn auswirkt. An den psychologischen Instituten der Universität Freiburg forschen weitere Partnerinnen und Partner zur Ausprägung psychischer Erkrankungen. Wissenschaftler aus der Physiologie wiederum untersuchen an Tiermodellen genetische Mutationen oder epigenetische Mechanismen, die beim Menschen entdeckt wurden. Das erlaubt ihnen, entsprechende Faktoren zu modellieren und zu analysieren, wie genau die epigenetischen Mechanismen in einer Nervenzelle ablaufen.
Das Team der Wissenschaftler ergründet, wie sich die Pandemie sowohl akut als auch langfristig auf das seelische Wohlbefinden der Menschen auswirken wird. Photo: Maria Sbytova/stock.adobe.com
Neue Therapiemethoden
Identifiziert man genetische und epigenetische Biomarker und zieht zusätzlich Informationen zu umweltbedingten und lebensgeschichtlichen Risikofaktoren heran, könnte sich künftig bei gesunden Menschen besser vorhersagen lassen, ob das Risiko, dass sie im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung entwickeln, erhöht ist. Den Risikogruppen könnten Forschende gezielt präventive Behandlungen anbieten, um den Ausbruch von Erkrankungen von vornherein zu verhindern. Patienten müssten dann keine Therapie durchlaufen. Zum Beispiel gibt es präventive Programme, die die Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit, stärken oder den Umgang mit angstassoziierten Situationen erleichtern.
Die Freiburger Forscherin möchte mithilfe von Biomarkern frühzeitig herausfinden, welche Medikamente ein Patient benötigt und mit welcher Wirkung zu rechnen ist. So ließe sich die Therapie auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten zuschneiden: Die Wirkung der Medikamente würde verbessert, die Nebenwirkungen würden minimiert werden. Schließlich lassen sich aus Domschkes Forschung zu genomweiten Assoziationen von Genen oder epigenetischen Mechanismen mit psychischen Erkrankungen gegebenenfalls auch innovative Therapiemethoden ableiten: „Bei diesem Ansatz untersuchen wir keine Gene, deren Verbindung zur Erkrankung wir bereits vermuten, sondern das gesamte Genom. So wollen wir neue Gene finden, die Risikofaktoren für psychische Erkrankungen sind. Neu entdeckte Mechanismen könnte man dann gezielt medikamentös angehen.“
Epigenetische Prozesse seien allerdings nicht als die den einzigen Übersetzer zwischen Genen und Umwelt zu sehen, dazu, so Domschke, sei der Mensch ein zu komplexes Wesen: „Derzeit fragen wir uns, wie die Umwelt über die epigenetischen Vorgänge mit den Genen spricht. Doch wie spricht die Umwelt mit den epigenetischen Prozessen? In diesem ‚Domino‘ der Entstehung psychischer Erkrankungen gibt es noch viele Spielsteine, die wir einzeln und in ihrem Zusammenspiel identifizieren müssen.“ Grundsätzlich können epigenetische Veränderungen das Risiko für psychische Erkrankungen also erhöhen. Allerdings können Patienten die eigene epigenetische Veranlagung auch verändern, indem sie sich beispielsweise gut ernähren, nicht rauchen oder sich bei Bedarf einer Psychotherapie unterziehen, betont die Forscherin. „Mit einem gesunden Lebensstil können wir epigenetische Risikomuster wahrscheinlich zum Teil wieder normalisieren. Die gute Botschaft lautet daher: Wir sind unserer eigenen Natur nicht vollständig ausgeliefert.“
Studie zu den Auswirkungen der Pandemie
Die Natur hat mit dem Virus Sars-CoV-2 jedoch das Leben vieler Menschen weltweit verändert. Deshalb untersucht Domschke derzeit zusammen mit rund 200 Forschenden aus mehr als 40 Ländern, wie die akuten und langfristigen Auswirkungen der Pandemie das körperliche und seelische Wohlbefinden beeinflussen. In der ersten von drei Phasen der Studie „COH-FIT: Collaborative Outcomes Study on Health and Functioning during Infection Times“ werden Menschen während der Corona-Pandemie befragt. Sechs und zwölf Monate nach Ende der Pandemie finden in Phase zwei und drei Anschlussbefragungen statt. Bisher haben mehr als 25.000 Menschen an der Studie teilgenommen.
„Diese derzeit einmalige Situation kann genutzt werden, wegweisende Informationen von der Bevölkerung und deren Umgang mit der Pandemie zu erhalten. Unser Ziel ist es, Menschen in Krisenzeiten besser therapeutisch unterstützen zu können“, erklärt Domschke. Außerdem sollen die Daten helfen, Personen zu identifizieren, die während einer Pandemie ein erhöhtes Risiko für körperliche und seelische Gesundheitsprobleme aufweisen. Besonders gefährdeten Personen können gezielt Therapieangebote gemacht werden: „So können wir kurz- und langfristige psychische Belastungen besser vorhersehen, vermindern und zukünftig vielleicht auch verhindern."
Patrick Siegert