Gerüstet für die nächste Welle
Freiburg, 08.05.2020
Die Welle an Covid-19-Erkrankungen in Deutschland fiel bisher kleiner aus als erwartet, die der Hilfsbereitschaft dafür aber viel größer: Etwa 350 Freiburger Medizinstudierende sind derzeit im Corona-Hilfseinsatz, die meisten von ihnen im Universitätsklinikum. Insgesamt hatten sich knapp 1.500 Studierende der Albert-Ludwigs-Universität für die von der Offenen Fachschaft Medizin e.V. initiierte Aktion gemeldet, und auch das Land Baden-Württemberg hatte einen ähnlichen Aufruf gestartet. Zwei Medizinstudentinnen berichten, wie sie ihren Einsatz auf der Chirurgischen Intensivstation erleben.
Die angehenden Medizinerinnen Pauline Hägele (links) und Anna Veenstra arbeiten seit einigen Wochen auf der Chirurgischen Intensivstation. Foto: Jürgen Gocke
„Es ist ein Segen, dass die Medizinstudierenden da sind“, sagt Dr. Thorsten Hammer, der Katastrophenschutzbeauftragte des Uniklinikums Freiburg. Um die 1.500 Studierende wollten auf Initiative der Offenen Fachschaft Medizin e.V. helfen. Ungefähr 350 von ihnen tun es aktuell, die meisten in der Uniklinik, einige in Pflegeheimen und im Gesundheitsamt. „Sensationell“, findet der Krisenfachmann, „uns hat es leidgetan, dass wir nicht alle einbinden konnten.“ Die Zahl der Covid-19-Neuerkrankungen blieb zum Glück kleiner als befürchtet und damit auch der Bedarf an Hilfe geringer. Hammer lobt, wie hervorragend Uniklinik, Stadt, Universität und Fachschaft zusammengearbeitet haben: „Die Koordination hat Modellcharakter.“ Bis nach Berlin habe das für Anerkennung gesorgt.
Im Nu passende Strukturen aufbauen
„Wir haben Konzepte für Großschadenslagen, aber Sars-CoV-2 hat eine komplett neue Situation geschaffen“, erklärt Hammer, der in Normalzeiten Ärztlicher Leiter der Chirurgie im Notfallzentrum ist. Um die willkommene Flut der Hilfsbereitschaft zu managen, mussten Hammer und sein sechsköpfiges Team im Nu passende Strukturen aufbauen – etwa Anlaufstellen, Schulungskonzepte oder eine Plattform zur bedarfsgerechten Vermittlung. „Die Abteilungen haben uns gemeldet, wie viele Hilfskräfte sie brauchen und wie lange“, sagt Hammer. Der Sicherheitsdienst, der Hygienevorschriften und Besuchsregeln überwacht, brauchte personelle Verstärkung, der Transportdienst, verschiedene Kliniken und andere Bereich ebenso. Hammers Team hat die Verteilung und flexible, befristete „Blitzanstellungen“ organisiert: „Beide Seiten haben die Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis früher zu beenden.“
Die Offene Fachschaft hat die Namen und Qualifikation der Hilfswilligen gesammelt: Semesterzahl, Famulatur mit Klinikerfahrung, Ausbildung zur Rettungssanitäterin oder zum Rettungssanitäter und dergleichen. Pauline Hägele und Anna Veenstra studieren im sechsten Semester Medizin und arbeiten seit dem 23. März 2020 tageweise im Schichtdienst auf der Intensivstation der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie.
Blut abnehmen, Medikamente vorbereiten
Jede Schicht beginnt – egal ob morgens oder abends – mit der Gruppenübergabe. „Da sprechen wir alle Zimmer durch“, erklärt Hägele. Danach hilft sie meistens einer Pflegekraft bei den täglichen Aufgaben: Blut entnehmen, Medikamente vorbereiten, Patientinnen und Patienten zur OP bringen. „Viele pflegerische Tätigkeiten, aber auf Intensiv umfassen die auch Aufgaben, die woanders Ärztinnen und Ärzte erledigen.“ Besonders spannend ist für die Medizinstudentin alles, wo sie zum ersten Mal selbst ran kann. Einmal durfte sie eine Magensonde legen. Dabei schiebt man einen kleinen Schlauch durch die Nase des Patienten bis in den Magen. „Eigentlich ganz unspektakulär“, sagt Hägele, „aber eben nicht beim ersten Mal.“ Zu Beginn gab es mehrere Einführungen: Grundzüge der Beatmung, Organisation der Station und Hygiene. „Ihr könnt jederzeit wieder gehen, wenn euch die Belastung zu viel wird, beispielsweise durch Todesfälle“, wurde den Studierenden immer wieder gesagt. Todesfälle gab es, aber Hägele ist geblieben. Sie hat mit anderen Helferinnen und Helfern darüber gesprochen. „So hat es mich eher berührt als belastet.“
Der Plan war, dass Hägele und Co. „Leuchttürme“ unterstützen – Pflegekräfte, die bei einer Covid-19-Schwemme je bis zu vier Intensivbetten statt zweien hätten betreuen sollen. Doch bisher waren maximal sechs der 26 teils neuen Intensivplätze mit Covid-19-Patienten belegt. Die Zusammenarbeit hat sich auch so gut eingespielt. Vorlesungswissen ist konkret geworden, fühlbar, riechbar: „Im Einsatz wird Pharmakologie lebendig“, sagt Hägele. Auch Arbeits- und Sichtweise des Pflegepersonals haben ihr imponiert. „Auf Intensiv haben die Leute sehr viel Fachwissen.“
„Die ersten Nachtschichten haben mich etwas mitgenommen“
Auch Pauline Hägeles Kommilitonin Anna Veenstra erledigt vorwiegend pflegerische Aufgaben. Covid-19-Patienten umzudrehen, ihre Körper zu waschen und zu pflegen ist aufwändig. „Da helfen schon ein paar Hände mehr“, findet Veenstra. Einmal durfte sie bei einer Tracheotomie assistieren, einem Luftröhrenschnitt. „Das war sehr, sehr beeindruckend.“
Gestaunt hat die angehende Medizinerin gleich bei der Einführung. „Da hieß es krass und klar: Eigenhilfe geht vor Helfen.“ Selbstschutz kommt vor Aktionismus. „Das war mir bewusst, aber ich hatte mir darüber nie wirklich Gedanken gemacht.“ Die Stimmung auf der Station schien ihr zunächst angespannt. „Wie in der Ruhe vor dem Sturm.“ Der zog nicht auf, trotzdem herrscht Hochbetrieb. Ungewohnt und darum anstrengend waren für sie das lange Stehen bei den Schichten und das Arbeiten zu Schlummerzeiten. „Die ersten Nachtschichten haben mich etwas mitgenommen.“
Emotional bewegt hat sie, dass manche Patienten, die nach langer Beatmung zu sich kamen, nicht einmal mehr über ihre Covid-19-Erkrankung Bescheid wussten. „Ich habe viel gelernt, Selbstsicherheit gewonnen und weiß jetzt, dass ich hier wirklich helfen kann“, resümiert die Studentin. Zuerst fehlte ihr das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, „fast alles hier war für mich neu.“ Doch nun erscheint es ihr sehr wahrscheinlich, später in der Chirurgie zu arbeiten.
Ein Schulterschluss, eine Stimme
Prognosen zufolge droht hierzulande der nächste Peak von Corona-Infektionen, wenn sich der Sommer dem Ende zuneigt. „Dann wird es ein Riesenvorteil sein, wenn wir auf eingeschulte Hilfskräfte und bewährte Strukturen zurückgreifen können“, stellt Krisenmanager Thorsten Hammer heraus. Es hat ihn auch gefreut, wie die unterschiedlichen Kliniken der Stadt, die sonst in Konkurrenz stehen, zusammengehalten haben: „Sie haben in dieser Zeit mit einer Stimme gesprochen.“ Auch die Abstimmung zwischen Universität, Uniklinikum und Stadt hält er für einen „bemerkenswerten Schulterschluss“. Freiburg ist also bestens gerüstet, falls neue Covid-19-Wellen anrollen.
Jürgen Schickinger