Frontfrau mit Teamgeist
Freiburg, 30.08.2018
Anna Pingen ist 25 Jahre alt und promoviert in Jura. Das an sich könnte bereits ungewöhnlich klingen, wenn man bedenkt, dass gute Noten – zumal im oberen Bereich der Skala – in dem Studienfach eine Seltenheit sind. Und für eine Promotion kommen lediglich die besten Köpfe in Frage. Obendrein ist die Deutsch-Französin seit Juni 2018 Vorsitzende des in Freiburg beheimateten Vereins „Anwältinnen ohne Grenzen“ (AOG). Für die Zukunft will Pingen einen neuen Schwerpunkt aufbauen.
Die Deutsch-Französin Anna Pingen ist mit dem links- und rechtsrheinischen Rechtssystem vertraut. Foto: Klaus Polkowski
„Als ich im Frühjahr 2017 über eine Kollegin erstmals mit ‚Anwältinnen ohne Grenzen‘ in Kontakt kam, hat mich das sofort angesprochen“, erinnert sich Anna Pingen. In Frankreich, wo sie ihren Master absolvierte, hatte sie bereits in einem Flüchtlingszentrum gearbeitet. „Die Leiden der Frauen, die – um nur ein Beispiel zu nennen – im Krieg vergewaltigt werden, sind mir sehr zu Herzen gegangen. Und bei AOG merkte ich sofort: Hier kann ich mich nützlich machen.“ Sie brachte sich schnell im Verein ein: In einem Vortrag beleuchtete sie zum Beispiel, wie sich die Gesetze in Frankreich und Deutschland zur Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt als Fluchtursache unterscheiden. Als Absolventin des französischen Bildungssystems – sie wuchs im sächsischen Riesa auf, bis die Familie nach Toulouse übersiedelte – kennt sie beide Rechtssysteme, das links- und das rechtsrheinische.
Nun steht Pingen dem achtköpfigen Führungsteam des Vereins vor, wehrt sich aber dagegen, hervorgehoben zu werden; ein bisschen so, wie Fußballer stets betonen, Teil einer Mannschaft zu sein. Gegen diesen Vergleich wiederum wehrt sie sich keineswegs. Lachend entgegnet sie: „Ich stehe da zwar vorne, aber wir machen das alles im Kollektiv. Wir sind jetzt ein ganz junges Vorstandsteam.“ Allesamt Frauen, wie der Vereinsname nahelegt.
Neuer Fokus auf Frauen in Afrika
Pingen folgt auf die 64 Jahre alte deutsch-bosnische Juristin und Frauenrechtlerin Jasmina Prpić, die den Verein 2007 gegründet hat. Zwei Generationen und fast 40 Jahre liegen zwischen den beiden Frauen. Macht sie jetzt alles anders als ihre Vorgängerin? Die Juristin wiegelt ab: „Natürlich werden wir auf der super Arbeit unserer Vorgängerinnen aufbauen.“ Das Team möchte das Netzwerk von Juristinnen erweitern und die großen internationalen Konferenzen, die alle zwei Jahre von AOG organisiert werden, beibehalten. „Jedoch wollen wir in den nächsten Jahren den Fokus auf ein für den Verein neues Thema legen: die Lage der Frauen in den afrikanischen Ländern. Daneben haben wir auch kleinere Projekte wie die neue Kooperation mit Südwind e.V. für eine Veranstaltungsreihe, die sich an geflüchtete Frauen richtet.“
Pingen sieht sich nicht als Frontfrau und große Macherin, sondern bricht ihre Rolle angenehm zurückhaltend herunter: „Ich gebe die Sachen weiter und bin der Kontakt zur Außenwelt.“ Sie sieht sich eher als Koordinatorin, die Anfragen weiterleitet, Aufgaben weitergibt und eben auch die Mitgliederversammlungen wie auch die Vorstandssitzungen leitet. Beides einmal im Monat. „Natürlich ist das zeitintensiv, aber wenn es Spaß macht und einen interessiert, ist das kein Problem – so habe ich auch Zeit für meine Doktorarbeit.“
Wann ist eine Grenze überschritten?
Ihre Dissertation, mit der Pingen am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht angedockt ist, schreibt sie über so genannte Motivationskonflikte. „Diesen Begriff habe ich selbst kreiert. Es geht um die Frage: Inwieweit kann man das Aufhetzen, das Anreizen zu Straftaten bestrafen?“, erklärt sie. Als Beispiel führt sie Hassreden gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen an. Wo ist da die Grenze überschritten, ab wann ist so etwas strafrechtlich verwertbar? Dazu haben die Franzosen nach den Anschlägen im eigenen Land andere, strengere Vorstellungen als die Deutschen, die sich mehr auf die Freiheit zur Meinungsäußerung berufen. Selbst der regelmäßige Besuch von Propagandaseiten im Internet hätte nach einem französischen Gesetzentwurf von 2016 unter Strafe gestellt werden sollen, berichtet sie.
Die Doktorandin schätzt es, verschiedene Blickwinkel auf ihre Fragestellung zu sammeln – das gelingt ihr dank eines Kollegiums, das sich aus mehr als 30 Ländern speist. „Das ist Luxus und vereinfacht die Sache ungemein“, sagt sie. „Die Rechtswissenschaften sind ja ein Fach, das vom Austausch lebt.“ Und jede Wette: Kaum jemand kann das lebendiger rüberbringen als die 25-Jährige.
Alexander Ochs