Da gehts lang!
Freiburg, 16.11.2017
Sich etwas von der Seele zu reden, kann entlasten. Doch was, wenn es niemanden gibt, der zuhört oder wenn die Scham zu groß ist, sich einer Freundin oder einem Freund anzuvertrauen? Studierende der Universität Freiburg haben hierfür das Sorgen-Tagebuch entwickelt: Auf der Onlineplattform können Menschen anonym ihre Gedanken niederschreiben und erhalten eine Antwort von geschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Wege aufzeigen: Mehr als 5.000 Nutzer haben sich mittlerweile beim Sorgen-Tagebuch angemeldet, das Elisabeth Rohde und Daniel Kemen mitentwickelt haben.
Foto: Klaus Polkowski
Es ist Montagmorgen, 8 Uhr. Stefans Wecker klingelt zum dritten Mal. Eigentlich muss er zur Vorlesung, doch Stefan würde sich lieber unter seiner Decke verkriechen. Seit Wochen überfällt ihn dieses Gefühl von Traurigkeit. Alles ist ihm zu viel: die Prüfungen, sein Nebenjob im Café und dann noch der Streit mit seiner Freundin Lisa vor einer Woche. Stefan schleppt sich wie jeden Morgen dennoch an die Universität, aber den Erklärungen seiner Professorin kann er nicht so richtig folgen. Abends ruft sein Freund Erik an und fragt, ob er mit ihm in die Kneipe um die Ecke gehen will. Stefan erfindet eine Ausrede. Er will einfach nur alleine sein. Er spürt, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Er würde gerne mit Erik über seine Gefühle sprechen, doch er traut sich nicht. Was ist, wenn Erik ihn nicht versteht?
An solch eine Situation haben Daniel Kemen, Elisabeth Rohde und Simon Gehri gedacht, als sie 2015 das Sorgen-Tagebuch entwickelt haben: „Wir haben uns gefragt, was man macht, wenn man ein Problem hat, aber keine Freunde, mit denen man darüber reden kann oder will“, erklärt Kemen. Die drei Studierenden kamen darauf, dass viele Menschen Tagebuch schreiben, um ihre Sorgen loszuwerden. „In einer schwierigen Situation hilft es, das Gefühl zu haben, dass da jemand ist, der einem zuhört. Doch der Nachteil an einem Tagebuch ist, dass es nicht reagiert.“ Die Idee eines Online-Tagebuchs fand schnell Zuspruch: Vier Tage nachdem das Team eine erste Testversion online gestellt hatte, fanden sich bereits 90 Beiträge auf der Seite. „Es wurde deutlich, dass es einen Bedarf für dieses Angebot gibt und dass wir es nicht einfach nebenher betreiben können.“
Hilfe in ein paar Klicks
Um Hilfe zu bekommen, braucht es nur ein paar Klicks: Die Nutzerinnen und Nutzer registrieren sich mit einem Nickname und einem Passwort, und schon schlägt sich auf ihrem Bildschirm ein virtuelles Buch auf, das sie mit Inhalt befüllen können, den niemand außer ihnen lesen kann. Sie entscheiden selbst, ob sie von dem Team Antworten erhalten oder nur für sich schreiben wollen. Da sie keine Emailadresse angeben, bleiben sie anonym. „In den Einträgen geht es um alle möglichen Themen. Das fängt bei Liebeskummer an und geht weiter bis zu psychischen Erkrankungen“, sagt Rohde. Viele Menschen, die das Tagebuch nutzten, ahnten bereits, dass sie unter einer solchen Erkrankung litten, trauten sich aber nicht, zu einer Therapeutin oder einem Therapeuten zu gehen. Professionelle Hilfe jedoch kann das Sorgen-Tagebuch nicht ersetzen. „Unser Angebot besteht darin, dass wir einen Weg aufzeigen, wie es für die Person weitergehen kann. Beispielsweise, indem wir über verschiedene Therapien, Selbsthilfegruppen und Anlaufstellen informieren“, betont Kemen.
Preis für soziales Engagement
250 bis 300 Einträge pro Woche verzeichnet die Online-Plattform mittlerweile; 5.000 Nutzer haben sich angemeldet. Dieses Aufkommen können die drei Studierenden nicht mehr alleine stemmen. Sie haben 2015 den Verein „Sorgen-Tagebuch e.V.“ gegründet, der 50 ehrenamtliche Mitarbeiter beschäftigt. Sie kommen aus ganz Deutschland, sind zwischen 16 und 65 Jahre alt, arbeiten, studieren oder gehen noch zur Schule – und schreiben von zu Hause Antworten. Bevor sie für den Verein arbeiten dürfen, müssen sie sich mit Lernvideos und Fragebögen auf ihre Aufgabe vorbereiten und Probetexte schreiben. Eine psychologisch geschulte Mentorin begleitet den Aufnahmeprozess und entscheidet, ob die Bewerberinnen und Bewerber geeignet sind.
2016 hat das Projekt den Alumni-Preis für soziales Engagement der Universität Freiburg erhalten. Besonders freuen sich Kemen und Rohde über die vielen positiven Rückmeldungen der Nutzer. „Wenn wir mit dem Projekt so viel zu tun haben und dann solches Feedback erhalten, geht es uns auch gleich besser“, sagt Rohde mit einem Lächeln. Einen Wunsch wollen sie ihren Nutzern demnächst auch erfüllen: Eine Sorgen-Tagebuch-App für das Smartphone soll es künftig noch einfacher machen, sich Hilfe zu holen.
Sonja Seidel