Zwischenstopp im Kulturbiotop
Freiburg, 25.09.2018
Museen sind, schon der Name sagt es, Musen-Orte. Aber sind sie auch Orte der Muße? Eher nicht, wenn der Besuch zum Ausstellungsmarathon oder zum kulturellen Pflichtprogramm gerät. In Baden-Baden jedoch soll das Museum als Mußestätte Realität werden: Ein Museum der Muße oder „Mußeum“ ist in Planung. Elisabeth Cheauré hatte die Idee, und sie soll sie auch umsetzen. Die Freiburger Slavistikprofessorin leitet den Sonderforschungsbereich (SFB) „Muße. Grenzen. Raumzeitlichkeit. Praktiken“, an dem sechs Fakultäten der Universität Freiburg beteiligt sind. Als eine Art Probelauf für das Transferprojekt wurde im September im Stadtmuseum Baden-Baden die Ausstellung „Russland in Europa – Europa in Russland. 200 Jahre Ivan Turgenev“ eröffnet.
Ivan Turgenev als Weltbürger zwischen Russland und dem Westen: Die Ausstellung über das Leben und Schaffen des Autors ist bis zum 3. März 2019 zu sehen. Foto: Stadtmuseum Baden-Baden
Baden-Baden, Lichtentaler Allee, Höhe Stadtmuseum. Menschen flanieren auf den Wegen und über die Wiesen eines der schönsten Landschaftsparks Deutschlands. Die Lichtentaler Allee ist ein Ort zum Durchatmen und Relaxen, die Zeit verstreicht hier langsamer. Mitunter scheint sie sogar stehen geblieben zu sein, wenn – kein ganz ungewöhnliches Vorkommnis – ein Kutscher in Livree und mit Zylinder in seiner Kalesche schick gekleidete Kundschaft durch die Naturidylle lenkt.
Das Flair, das die Kurstadt im 19. Jahrhundert umgab, hängt auch heute noch in der Luft. Es wäre sicherlich nicht falsch, die „Sommerhauptstadt Europas“ als mondänen Ort der Muße, ja als ein internationales Zentrum der Erholung und des Müßiggangs in jener Zeit zu bezeichnen. Hier trafen sich die Angehörigen der besseren und besten Gesellschaft: die Mächtigen, die Reichen und die Feinsinnigen.
Schon deshalb ist für Elisabeth Cheauré Baden-Baden der „ideale Ort für diese Ausstellung. Als Bäderort und Kulturbiotop steht die Stadt ja per se im Verdacht, ein Muße-Ort zu sein.“ In Zusammenarbeit mit den Freiburger Slavistinnen Dr. Regine Nohejl und Olga Gorfinkel, hat Cheauré anlässlich des 200. Geburtstags des russischen Schriftstellers Ivan Turgenev die Schau realisiert. Turgenev, der hier insgesamt sieben Jahre lebte, schrieb 1865 an seinen Bruder: „Ich habe ein Universalmittel. (…) komm nach Baden-Baden; seit ich hier bin, sind all meine früheren Gebrechen verschwunden.“
In Livree und mit Zylinder: Das Flair, das die Kurstadt im 19. Jahrhundert umgab, hängt auch heute noch in der Luft. Foto: Stadt Baden-Baden
War der große Romancier ein Muße-Mensch? „Na ja, er war ganz schön umtriebig, ein rastlos Reisender“, sagt Cheauré. „In der Postkutsche oder im Zug fuhr er kreuz und quer durch Europa. Doch natürlich gab er sich hin und wieder auch der Muße hin: beim Gespräch in den Salons, auch bei der Jagd, seinem Hobby.“ „Und beim Briefeschreiben“, wirft Olga Gorfinkel ein: „wenn es nicht gerade in Arbeit ausartete“. Turgenev hatte nach heutigem Wissensstand mindestens 573 Briefpartnerinnen und Briefpartner, fügt Regine Nohejl hinzu: „Einmal klagt er in einem Brief, er habe noch die ganze Nacht hindurch zu schreiben. Stapel von Briefen.“
Vertiefen ohne Reizüberflutung
Die Muße-Forschung bestimmt ihren Gegenstand als „produktive Unproduktivität“, so Cheauré. Muße ist in der Ausstellung allerdings weniger auf der inhaltlichen Ebene als in der Präsentationsweise ein Sujet. Ziel der Schau ist es, den Besucherinnen und Besuchern selbst eine „Muße-Erfahrung zu ermöglichen. Das gelingt nur ohne Reizüberflutung und mit der Möglichkeit, dass man selbst auswählen kann, was man sehen und wo rein man sich vertiefen möchte. Man soll sich mit seiner ganzen Körperlichkeit und Sinnlichkeit einbringen können.“
Der Museumsbesuch gewissermaßen als sensorisches Flanieren. Neben audiovisuellen bietet die Ausstellung taktile, olfaktorische und sogar geschmackliche Reize. So steht im einleitenden ersten Raum ein Samowar für eine Teestunde bereit. Nur wenige Objekte befinden sich hinter Glas in einer Vitrine; fast alle lassen sich anfassen und in die Hand nehmen. Auch für ein subtiles, auf das jeweilige Thema eines Raums abgestimmtes Duftdesign ist gesorgt. Darüber hinaus laden Sitzwürfel zum Verweilen und Schmökern in den bereit liegenden Romanen Turgenevs ein. Die grafische Gestaltung sucht mittels kleinerer Texteinheiten in wechselnder Schriftart und Schriftgröße Textwüsten zu vermeiden. Nicht zuletzt haben die Besucher die Möglichkeit, sich auf zu Turgenevs Zeit gebräuchliche Formen der Kommunikation einzulassen: Feder, Tintenfass und Postkarte liegen bereit.
Knotenpunkte: Der Netzwerker Ivan Turgenev tauschte sich mit mehr als 570 Briefpartnern aus und knüpfte auf der ganzen Welt Kontakte. Foto: Stadtmuseum Baden-Baden
Reisen, Liebe und spielerische Elemente
Der Parcours gliedert sich in Themenräume, die Aspekte aus Turgenevs Leben aufgreifen. Es geht um Reisen und Liebe, Kommunikation und Networking – bei alldem aber, am Beispiel Turgenevs, zentral um das im Titel anklingende Verhältnis von Russland und Europa. Der im Westen bekannteste russische Intellektuelle seiner Zeit war gleichzeitig ein bedeutender Vermittler zwischen Russland und dem Westen. In der Kontroverse zwischen „Slavophilen“. und „Westlern“ vertrat er die Position letzterer. Mit seinem Gegenspieler Fjodor Dostojewski lieferte er sich 1867 ein legendäres Streitgespräch. Junge Freiburger Schauspieler stellten es, mit finanzieller Unterstützung des Freiburger Zwetajewa-Zentrums, für die Ausstellung in einem Video nach.
Romantische Vorstellungen von russischer Seele oder Rückständigkeit im Kontrast zu westlicher Vernunftorientierung und Modernität begreifen die Freiburger Wissenschaftlerinnen als bis heute wirksame kulturelle Zuschreibungen, die es auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen gilt. Ein weiteres Ziel der Schau ist es, in der aktuellen Debatte um das Verhältnis des Westens zu Russland „verhärtete Fronten aufzuweichen“, wie Cheauré es formuliert – sozusagen mithilfe der Muße. „Wir wollen durch solche anderen Darstellungsformen, etwa durch spielerische Elemente wie ein Quiz mit prominenten Aussagen zum Verhältnis Russlands und Europas, den Besucher zum Nachdenken anregen.“
Für Literaturausstellungen dürfte das Pionierprojekt der drei Forscherinnen vorbildlich und von Belang sein. Im Baden-Badener Stadtmuseum hat der SFB, das „riesige Forschungsschiff“, wie Sprecherin Elisabeth Cheauré ihn bezeichnet, allerdings nur einen Zwischenstopp eingelegt. Zielhafen des slavistischen Beitrags zu dem Projekt ist das „Mußeum“ – ein Museum zur Literatur und Muße, das 2020 in der Stadtbibliothek Baden-Baden eröffnen soll. Relativ entspannt können die drei Wissenschaftlerinnen jetzt die Besucherresonanz abwarten. Auch die wird wissenschaftlich exakt ermittelt: In den Ausstellungsräumen liegen Fragebögen bereit.
Hans-Dieter Fronz
Sonderforschungsbereich „Muße. Grenzen. Raumzeitlichkeit. Praktiken“