Schauplätze des Nichtstuns
Freiburg, 17.09.2019
Dass Muße gerade heute ein Thema für die Wissenschaft ist, mag damit zusammenhängen, dass in unruhigen Zeiten wie diesen der Wert von Entschleunigung und Achtsamkeit verstärkt empfunden wird. Seit 2013 forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fakultäten im Sonderforschungsbereich (SFB) „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“ der Universität Freiburg über Muße. Nun existiert eine interaktive Weltkarte, auf der alle Interessierten in Wort und Bild ihren ganz persönlichen Ort der Muße eintragen können.
Einfach mal abhängen: Das Faultier ist das Maskottchen und Emblem des Magazins, das der Sonderforschungsbereich herausgibt. Foto: Jordan/stock.adobe.com
Bei der Architektin und Fotografin Martina Issler stellt sich im „Gewusel“ eines lärmenden Viertels nahe dem Tahrir-Platz in Kairo „ganz tiefe Bauchatmung“ ein. Auch die Berliner Kulturwissenschaftlerin Ana Nenadovic kommt zu innerer Ruhe, wenn sie sich ohne Absicht von ihren „Füßen führen lässt“, und zwar in einem belebten Viertel im kubanischen Havanna. „Sich treiben lassen, ohne getrieben zu werden“: So erlebt der Berliner Soziologe Hans-Albert Wulf bei einem Kamelritt durch die libysche Wüste die stundenlange Rast an einer Wasserstelle. Im Wadi sind die „Tuareg und die Kamele unsere Lehrmeister“ schreibt er und kann förmlich spüren, wie ihm „die lästigen schweifenden Gedankenfetzen und der ganze mitgeschleppte Informationsmüll aus dem Kopf gespült“ werden. Und Christian Hanser hat in der Nähe von Cluny, einem Städtchen im Osten Frankreichs, ein „Kulturzentrum für die Kunst des Innehaltens“ gegründet – mit Hängematten und Sesseln auf zwei Ebenen: „Die Menschen kommen, um nichts zu tun.“
Lebensweltlich und wissenschaftlich
Diese und andere Beschreibungen lassen sich auf der interaktiven Website „MußeOrte – weltweit“ nachlesen. Zahlreiche Personen in- und außerhalb der Wissenschaft wurden eingeladen, ihren persönlichen Muße-Ort zu charakterisieren. Die Seite vermittelt eine Vorstellung davon, wie die Autorinnen und Autoren Muße jeweils individuell verstehen und erleben und mit welchen Orten sie Muße verbinden. Verknüpft werden diese lebensweltlich und persönlich geprägten Perspektiven auf das Thema Muße mit der Arbeit des SFB: In Interviews stellen die Freiburger Forscherinnen und Forscher ihren Zugang zum Thema vor. Ein Team des SFB um den Koordinator des Forschungsverbundes Dr. Tilman Kasten betreut die Website. Etwa 50 Beiträge sind bis jetzt eingegangen und werden nach und nach ins Netz gestellt. Und es sollen noch mehr werden.
Die Gegensätze überschreiten
Ging es in der ersten Förderphase (2013-2016) des Sonderforschungsbereichs schwerpunktmäßig um historische Phänomene wie Muße und Gender im Russland des 19. Jahrhunderts oder die römische Briefliteratur, so rücken die Projekte der zweiten Phase (2017-2020), an der mittlerweile sechs Fakultäten sowie das Rechenzentrum und die Universitätsbibliothek beteiligt sind, verstärkt auch zeitgenössische und gesellschaftliche Aspekte ins Zentrum. Die Forschenden untersuchen aktuelle Erscheinungen, etwa das Phänomen von Muße-Kursen im Zeichen von Selbstoptimierung. Das Transferprojekt „Mußeum – Museum der Muße und Literatur Baden-Baden“ setzt die gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis um.
„Muße, wie unser SFB sie versteht, hat die Tendenz, Gegensätze zu überschreiten – etwa den Gegensatz von Arbeit und Freizeit, Produktivität und Unproduktivität“, sagt Tilman Kasten. Und so kann einem vielleicht auch das Verlangen, einfach mal abzuhängen, ein Muße-Erlebnis ermöglichen. Gewiss mit einem Augenzwinkern ist jedenfalls das Faultier, Maskottchen und Emblem des Magazins „Muße“, gemeint.
Hans-Dieter Fronz