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Mosaikstein für das „russische“ Freiburg

Die Slavistin Elisabeth Cheauré ergründet die Geschichte des Austauschs zwischen Ost und West und entdeckt Personen, die ihn über Jahrzehnte aufrechterhielten

Freiburg, 20.07.2020

Bisher ist Freiburg – im Gegensatz zu Baden-Baden oder Berlin – nicht unbedingt als Ort aufgefallen, der eine „russische“ Geschichte hat. Elisabeth Cheauré, Professorin für Slavische Philologie und Gender Studies an der Albert-Ludwigs-Universität, hat das mit ihrem fulminanten, textreichen Bildband „Das ‚russische‘ Freiburg: Menschen – Orte – Spuren“ geändert. Das Buch besticht durch seine wunderbare Lesbarkeit und animiert zu einem „russischen“ Rundgang durch die Stadt. Jürgen Reuß hat Elisabeth Cheauré gefragt, welche unerwarteten Entdeckungen sie bei der Recherche machte, welche Personen den Austausch zwischen Freiburg und Russland aufrechterhielten und wie der Kürze des kulturellen Gedächtnisses beizukommen ist.

Ganz in Weiß in einem Kartonhaus: Bei den „Russischen Kulturtagen“ 2017 verkleidete der Künstler Igor Ponosov die beiden Wahrzeichen der Universität Freiburg.
Foto: Klaus Polkowski

Frau Cheauré, als Slavistin ist Ihnen das „russische“ Freiburg sicher nicht unbekannt. Haben Sie bei der Recherche für Ihr Buch trotzdem unverhoffte Entdeckungen gemacht?

Elisabeth Cheauré: Es gab und gibt viel mehr „russisches“ Leben in Freiburg, als ich vorhergeahnt habe. Von der anfänglichen Vorstellung, dass ich das Thema in einer kleinen Broschüre abhandeln könnte, habe ich mich schnell verabschiedet. Das hat auch damit zu tun, dass ich gemerkt habe, wie produktiv es ist, sich unter einer bestimmten Perspektive auf einen klar bestimmten Raum zu beschränken – und damit Erkenntnisse des „spatial turn“ fruchtbar zu machen. Dabei ist Freiburg als Ort in Bezug zu Russland weniger naheliegend, als es beispielsweise Baden-Baden oder Badenweiler gewesen wären, von Berlin ganz zu schweigen. Umso größer waren die Entdeckungen auch für mein eigenes Fach, die Slavistik.

Können Sie ein Beispiel geben?

Da sticht für mich die Bedeutung von Iwan Zwetajew, dem Vater der weltberühmten Schriftstellerin Marina Zwetajewa, heraus. Im bisherigen Verständnis für Freiburg spielte er kaum eine Rolle. Er war aber mehrmals hier und bemühte sich sehr um Kunst aus dem Freiburger Münster für das von ihm gegründete, heutige Puschkin-Museum in Moskau. Ihm verdanken wir den Beginn der gemeinsamen Geschichte Freiburgs mit seinen beiden Töchtern Marina und ihrer Schwester Anastasija, die ebenfalls schrieb. Ein Höhepunkt dieser gemeinsamen Geschichte waren die 1990er Jahre, als Freiburgs damaliger Oberbürgermeister Rolf Böhme das Straßenschild für eine „Marina-Zwetajewa-Allee“ im Stadtteil Rieselfeld präsentierte. Geworden ist es dann nur ein „Marina-Zwetajewa-Weg“. Aber auch die Geschichte von Maxim Gorki in Günterstal war mir in allen Facetten bislang nicht bekannt. Es gibt sogar eigene „Freiburger Notizen“ von ihm und Fotografien aus der Freiburger Zeit, die ich zum Teil zum ersten Mal publizieren durfte.

Iwan Zwetajew war ein Geisteswissenschaftler von europaweitem Renommee, seine Tochter Marina wurde später eine weltberühmte Schriftstellerin. Anfang des 20. Jahrhunderts absolvierte sie gemeinsam mit ihrer Schwester Anastasija ein Schuljahr in Freiburg. Foto: Marina-Zwetajewa-Museum Moskau

Sie machen die „russische“ Geschichte Freiburgs vor allem an einzelnen Personen fest.

Ja, das ist eine weitere Erkenntnis meines Buches. Strukturen sind wichtig dafür, dass Transfer und Kontakte zwischen den Kulturen ins Laufen kommen und vorangetrieben werden. Doch noch entscheidender sind dafür die Individuen. Das deckt sich mit den Ergebnissen aus der Kulturtransferforschung. Die besten Programme nützen nichts, wenn nicht Menschen da sind, die wirklich etwas tun.

Und vermutlich waren Ihre wichtigsten Informationsquellen weniger die Bibliotheken als manche dieser Menschen?

Ja, viele Dokumente, Bilder und Geschichten verdanke ich dem direkten Kontakt mit diesen Akteurinnen und Akteuren. Es ist auch ein Anliegen dieses Buches, das Wirken dieser Menschen dem Vergessen zu entreißen, denn einige von ihnen leben noch, und damit auch ihre so wichtigen Erinnerungen. Mich hat erstaunt, wie viele engagierte Menschen es in Freiburg gibt, die sich um ein Russlandbild abseits von Klischees verdient gemacht haben. Doch das kulturelle Gedächtnis ist zum Teil sehr kurz.

Wie meinen Sie das?

Wer erinnert sich noch an die ersten „Russischen Kulturtage“ im Jahr 1989 unter dem Motto „Russisches Erbe – Sowjetische Gegenwart“? Da haben aus meiner Sicht einmalige Dinge in Freiburg stattgefunden. Oder die spannenden Verbindungen nach Russland von Wallgraben Theater und Theater Marienbad? Oder die Aktivitäten der in Freiburg gegründeten West-Ost-Gesellschaft? Als die russischen Kulturtage vor wenigen Jahren noch einmal neu aufgelegt wurden, war die Erinnerung an das Vorangegangene offenbar bereits verschüttet – im Übrigen ein durchaus normaler Prozess.

Elisabeth Cheauré ist Vorsitzende des Zwetajewa-Zentrums, das unter anderem kulturelle Angebote rund um das „russische“ Freiburg erarbeitet. Foto: Elisabeth Cheauré

Mal abgesehen von den vielfältigen kulturellen und wirtschaftlichen Kontakten – wird das Freiburger Verständnis von dem, was „russisch“ ist, nicht auch stark durch die Einwanderung von Russlanddeutschen geprägt?

Was „russisch“ ist, ist eine komplexe Sache. Ist eine russlanddeutsche Migrantenfamilie aus Kasachstan oder Westsibirien typisch „russisch“? Die ältere Generation der Russlanddeutschen ist in der Sowjetunion und damit russisch sozialisiert, in ihrem Inlandspass schien aber meist der Eintrag „deutsche Nationalität“ auf. Auch die in den 1990er Jahren nach Freiburg gekommenen Menschen jüdischer Abstammung werden hier häufig aufgrund ihrer Sprache als „Russen“ wahrgenommen, in der Sowjetunion aber war meist „jüdische Nationalität“ im Inlandspass vermerkt, womit aber – und das ist wichtig – nicht ein religiöses Bekenntnis gemeint war. Heute gibt es keine Sowjetunion mehr, die Herkunftsgebiete liegen nun in neuen Staaten wie etwa Kasachstan. Deshalb habe ich darauf bestanden, auch im Buchtitel das „Russische“ in Anführungszeichen zu setzen. Ob das zaristische, das sowjetische oder das heutige Russland: Es war und ist immer noch ein Vielvölkerstaat.

Auch die berühmte Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier stammte aus Kiew, also aus der Ukraine…

…sie selbst sagte aber immer: „Wo ich bin, ist Russland.“ Ich wollte in meinem Buch bewusst keine ethnische, religiöse oder gar nationalistische Simplifizierung dessen vornehmen, was „russisch“ sein kann, sondern im Gegenteil eher ein Bewusstsein für die Problematik schärfen. Ich habe daher vor allem die regionale Herkunft und das Russische als Kommunikationssprache als Kriterium herangezogen – und nicht zuletzt auch die Tatsache, dass diese Menschen hier in Freiburg als „russisch“ wahrgenommen wurden. Das gilt zum Beispiel auch für die vielen Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts zum Studium nach Freiburg kamen, weil sie im zaristischen Russland diskriminiert wurden.

In Ihrem Buch gibt eine gewisse Lücke zwischen 1945 und 1989. Warum?

Die gibt es. Die Blockbildung im Kalten Krieg hatte eine gewaltige Wirkung auf den Kulturaustausch. Es gibt wenige einzelne Akteure, die das durchbrechen. Ich versuche das etwa anhand der Geschichte der orthodoxen Gemeinde in Freiburg, anhand des Theaters oder der Geschichte des Russischen Chors nachvollziehbar zu machen. Aber natürlich ist dieses Buch erst ein Anfang; es gibt vermutlich noch viel zu entdecken.

Und Sie sind dabei nicht allein…

Nein, ich denke dabei vor allem an die Forschungen des Internationalen Graduiertenkollegs „Kulturtransfer und ‚kulturelle Identität‘ – Deutsch-russische Kontakte im europäischen Kontext“ oder Projekte des Sonderforschungsbereichs „Muße“. Aber auch ohne die Unterstützung der Stadt, der Wissenschaftlichen Gesellschaft und der Neuen Universitätsstiftung wäre es nicht möglich gewesen, das Buch in dieser Form zu publizieren und damit auch einen neuen Mosaikstein zur Stadt- und Universitätsgeschichte zu legen. Und nicht zu vergessen: Die Tatsache, dass es hier inzwischen ein Zwetajewa-Zentrum gibt, zeigt, wie lebendig auch heute das „russische“ Freiburg ist.