Artikelaktionen

Sie sind hier: Startseite Online-Magazin erleben & mitmachen Kritischer Blick auf einen Welthit

Kritischer Blick auf einen Welthit

Zu kitschig, zu plump, zu unchristlich sei „Stille Nacht, heilige Nacht“ – warum hält sich das Lied seit 200 Jahren?

Freiburg, 17.12.2018

In angeblich 300 Sprachen wird in der Weihnachtszeit die „Stille Nacht, heilige Nacht“ besungen. Viele Mythen ranken sich um dieses Lied, das seit seiner Entstehung starker Kritik ausgesetzt ist. Dr. Dr. Michael Fischer vom Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) der Universität Freiburg erklärt, warum der Welthit weder in der Kirche noch in der Wissenschaft auf Begeisterung stößt – und weshalb es dennoch wichtig ist, das Lied als Kulturgut zu bewahren.


Kitschiges Kulturgut: Das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ wurde vor 200 Jahren verfasst. Foto: J.Mühlbauer exclus./Fotolia

Am Anfang war die Maus. Der Legende nach ist es diesem kleinen Tier zu verdanken, dass in vielen Ländern der Welt an Weihnachten die „Stille Nacht“ besungen wird. Am 24. Dezember 1818 soll eine Maus den Blasebalg der Orgel in Oberndorf bei Salzburg angefressen und das Instrument unspielbar gemacht haben, erzählt Michael Fischer. Der Priester Joseph Mohr habe deshalb dem Organisten Franz Gruber ein Gedicht übergeben und ihn gebeten, eine passende Melodie für zwei Solo-Stimmen und für eine Gitarren-Begleitung zu schreiben. Gruber legte noch am gleichen Abend eine Komposition vor, die offenbar großen Anklang fand. „Diese Legende mit der Maus hat zwar keinen historischen Kern“, sagt Fischer, Direktor des ZPKM, „will aber doch eine Dimension des Weihnachtsfestes aufzeigen, nämlich dass mit der Geburt Christi Wunder verbunden sind“.

Übersetzung in Hunderte Sprachen

Nach und nach wurde die einfache Komposition aus dem Salzburgischen populär. Nachdem Tiroler Musiker „Stille Nacht“ in Städten wie Leipzig aufgeführt hatten, wurden im Jahr 1834 in Dresden Abdrucke des Liedes als eines von vier so genannten „ächten Tyroler-Liedern“ verkauft. Neun Jahre später fand es sich im „Musicalischen Hausschatz der Deutschen“ wieder. Schnell eroberte das Lied die Welt: erst Sachsen und Preußen, dann Hamburg, später Skandinavien und schließlich auch Gebiete in Übersee. „Ausschlaggebend hierfür waren zum einen die Rezeption im städtischen Kontext sowie der expandierende Verlagsmarkt“, berichtet Fischer. „Zum anderen spielte der Alpen-Folklorismus des 19. Jahrhunderts eine Rolle.“ Erst im Nachhinein wurde das Lied zum mustergültigen Beispiel eines mündlich überlieferten „Volksliedes“ stilisiert. Dass es heute in angeblich 300 Sprachen gesungen werde, sei Teil dieses Mythos.

Traut und bürgerlich

Die Verkürzung des Liedes von ursprünglich sechs Strophen auf drei begünstigte eine weitgehend säkulare Rezeption. Parallel zur Familiarisierung und Verhäuslichung des Weihnachtsfests nutzte die bürgerliche Kleinfamilie, die unter dem geschmückten Weihnachtsbaum traut beisammensaß, das Lied auch zur Selbstvergewisserung. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert kritisierten die Theologen jedoch andere Aspekte: „Gerade den Hymnologen war das Lied lange Zeit zu wenig liturgisch, zu unkirchlich, überhaupt zu gefühlvoll, sentimental und kitschig.“


Grüße von der Front: Die Liedpostkarte zeigt einen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Quelle: ZPKM/Universität Freiburg

Im Jahr 1897 formulierte der Mainzer Domkapellmeister Georg Weber sein hartes Urteil: In der ersten Strophe fehle jeder christliche Gedanke, der Verfasser des Textes habe das Geheimnis von Weihnachten nicht verstanden und auch die Melodie sei platt und geschmacklos. Protestantische Kritiker äußerten sich ähnlich: Der Theologe Wilhelm Nelle schrieb 1924, der Text sei schlicht und warm und die Melodie passe dazu, aber „ein höherer Wert wohnt beiden nicht inne“. Die Gebildeten lehnten die Emotionalität des Textes und der Melodie ab. „Allerdings kritisierten sie weniger den fehlenden existenziellen Ernst beziehungsweise die offenkundige Folgenlosigkeit des Singens“, betont Fischer. Problematisch sei nicht die mit dem Lied verbundene Stimmung, sondern dass diese nicht in ein humanes Handeln münde – heute etwa im Hinblick auf die weltweite Armut, die steigende Ungerechtigkeit, die Probleme der Migration oder der Umwelt.

Die Menschwerdung der Menschen

In der ursprünglichen sechs Strophen langen Version jedoch findet sich eine Stelle, der die politische Dimension von Weihnachten anklingen lässt. Jesus, heißt es da, habe als Bruder „die Völker der Welt“ umschlossen. Für Fischer scheint hier die prophetisch-messianische Dimension von Weihnachten auf, die in der faktischen Rezeption des Liedes zurückgedrängt worden sei. Trotz aller berechtigten Kritik ist er jedoch der Auffassung, dass das Lied auch heute noch die Menschen daran erinnern könne, wie die Welt sein solle: „Viele Menschen, auch solche, die der Kirche und dem Christentum distanziert gegenüber stehen, sehnen sich nach Stille und Frieden und hoffen auf Liebe und Rettung – wie immer sie sich diese ‚Erlösung‘ dann im Einzelnen vorstellen.“ Letztlich gehe es an Weihnachten nicht nur um die Menschwerdung Christi, sondern auch um die Menschwerdung der Menschen: „Insofern ist es gut, dieses 200 Jahre alte Lied als Kulturgut zu bewahren und zugleich als weltverändernde Utopie zu begreifen.“

Annette Kollefrath-Persch