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Kraft tanken in der dunklen Jahreszeit

Langer Winter und Corona-Krise: zwei Experten verraten, wie Menschen die doppelte Belastung bewältigen können

Freiburg, 21.12.2020

Kein Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, keine geselligen Weihnachtsfeiern, keine Konzerte, keine Aufführungen im Theater. Dieser Winter wird ein ganz besonderer. Viele kleine Seelentröster fallen aufgrund der Corona-Pandemie aus. Nach der Leichtigkeit des Sommers, die nach dem ersten Lockdown einsetzte, könnte die aktuelle Situation doppelt belastend werden: Jahresendzeit-Gerenne in Dunkelheit und Kälte gepaart mit der Pandemie und ihren Einschränkungen. Wie können Menschen das einigermaßen unbeschadet überstehen? Anita Rüffer hat bei den Psychologischen Psychotherapeuten Prof. Dr. Markus Heinrichs und Dr. Tobias Stächele nachgefragt. Die beiden leiten die Psychotherapeutische Ambulanz für stressbedingte Erkrankungen am Institut für Psychologie der Universität Freiburg. Jüngst haben die Experten einen Ratgeber veröffentlicht, der wissenschaftlich erprobte Tipps zur Stressbewältigung vermittelt.


Das macht Laune: Licht und Bewegung an der frischen Luft kurbeln die Hormone Melatonin und Serotonin an. Foto: Sandra Meyndt

Herr Heinrichs, stellen Sie fest, dass Stresserkrankungen oder Depressionen in diesen Zeiten zunehmen?

Markus Heinrichs: Der Mensch ist für soziale Distanz nicht gebaut. Kontakte fehlen uns allen, und ein Mangel daran kann zu Symptomen führen, die aber nicht per se eine psychische Erkrankung zur Folge haben. Anders verhält es sich mit Menschen, die sich schon vor dem Lockdown stark sozial isoliert gefühlt haben oder an einer psychischen Vorerkrankung leiden. Bei ihnen könnte sich eine Depression oder Angsterkrankung verstärken. In unsere Ambulanz kommen derzeit nicht mehr Ratsuchende als sonst. Wobei es saisonale Schwankungen in der dunkleren Jahreszeit schon immer gegeben hat.

Gerade hatte der Alltag nach dem ersten Lockdown wieder ein wenig Struktur bekommen. Und jetzt? Kein Chor, kein Sport, und zurück ins Homeoffice. Lauert zu Hause die Lethargie?

Tobias Stächele: Wenn von außen, etwa durch die Arbeit, keine Tagesstruktur mehr vorgegeben wird, ist es wichtig, sich selbst eine Struktur zu geben: immer zu festen Zeiten aufstehen und Feierabend machen, zwischendurch Pausen einlegen, Luft schnappen, eine Runde laufen, Essen kochen. Solche Rhythmen im Alltag helfen, sich vor Lethargie, aber auch vor Überforderung zu schützen. Wenn beispielsweise die Alltagsstruktur durch zu viel Stress verloren geht, müssen unsere Patientinnen und Patienten lernen, sich auf diese Weise aus dem Hamsterrad der Arbeitsbelastungen zu befreien. Der Patient überprüft seine Einstellungen und übt sich in Selbstfürsorge, indem er sich von seiner Arbeit zu distanzieren lernt. So erprobt er, wie er den Fuß in die Tür zu selbstbestimmten Strukturen kriegen kann. Um die geht es auch unter den Bedingungen dieses Winters. Für Eltern im Homeoffice, die wegen einer punktuellen Quarantäne auch noch gleichzeitig ihre Kinder zu Hause betreuen müssen, bedeutet das ein Höchstmaß an Stress. Klare Absprachen und Abläufe sind für die Bewältigung elementar.


Strukturen reduzieren den Stress, sagt Tobias Stächele: „Immer zu festen Zeiten aufstehen und Feierabend machen, zwischendurch Pausen einlegen, Luft schnappen, eine Runde laufen, Essen kochen.“ Foto: Sebastian Heck

Sie arbeiten demnach mit Ihren Patienten an einer Änderung ihrer Haltungen und Einstellungen. Ließe sich auf diese Weise auch der Corona-Krise, ohne sie schönzureden, etwas Gutes abgewinnen?

Markus Heinrichs: In einer jüngsten Studie haben wir sogar herausgefunden, dass im Lockdown im Vergleich zu vorher das Verantwortungsbewusstsein der Menschen für Klima- und Umweltfragen signifikant wuchs. Das war ursprünglich keine Pandemiestudie, die den Zusammenhang zwischen Covid-19 und Einstellungen hätte erforschen wollen. Aber als uns der Lockdown „dazwischenkam“, nutzten wir die Gunst der Stunde und fragten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kurzerhand nochmals am Ende des Lockdowns im Frühjahr. Es zeigte sich dabei jedoch auch, dass in dieser Phase verschiedene psychische und körperliche Symptome ebenso zunahmen wie verstärkte Vorurteile gegenüber Geflüchteten.

Demnach können Krisen und stressige Situationen negative ebenso wie positive Auswirkungen haben.

Tobias Stächele: Wir definieren Stress allgemein als Reaktion auf interne und externe Anforderungen. Akuter Stress aktiviert Energie, mit der sich eine bedrohliche und herausfordernde Situation meistern lässt. Wenn das gelingt, kann Stress ein gesunder Mechanismus sein, der hilft, das Überleben zu sichern, sich positiv zu entwickeln und seine Lebenswelt aktiv zu gestalten. Und es ist ja aktuell niemandem verboten, allein oder zu zweit im Wald spazieren zu gehen, endlich die Steuererklärung anzugehen, ein vernachlässigtes Hobby zu reaktivieren oder vielleicht ein Instrument wieder zu entdecken. Kontakte lassen sich auch unter diesen Umständen pflegen: zum Telefon greifen oder eine der zahlreichen anderen Kommunikationstechniken nutzen. Auch das aus der Mode gekommene Briefeschreiben könnte eine Option sein.

Dennoch: Niemand wagt eine Prognose, wie lange sich das alles noch hinzieht. Das produziert Unsicherheiten und Ängste vor Arbeitsplatz- und Einkommensverlusten oder auch vor einer Ansteckung. Dunkle Tage und düstere Zukunftsaussichten: Ist das nicht zu viel des Schlechten für die menschliche Psyche?

Markus Heinrichs: Wir müssen es ernst nehmen, dass zu einer gedrückten Herbststimmung aufgrund veränderter Lichtverhältnisse und weniger Bewegung im Freien lang anhaltende Unsicherheiten hinzukommen. Für depressionsanfällige Menschen sind November und Dezember oft schon an sich schwierige Monate. Die Pandemie mit ihren notwendigen Distanzregeln kann das Fass zum Überlaufen bringen. Es ist ein Bündel von Maßnahmen, die dem entgegenwirken können: Sich körperlich aktivieren, anstatt sich zurückziehen. Das geht auch ohne Fitnessstudio. Auf eine gute Ernährung achten, anstatt zu kohlenhydratreich zu essen und an Gewicht zuzulegen. Achtsam sein für sich und andere. Und ganz praktisch: Tageslicht im Freien um die Mittagszeit tanken oder es sogar mal mit einer Tageslichtlampe mit mindestens 4.000 Lux versuchen. Das bringt den Melatonin- und Serotoninhaushalt wieder in einen besseren Takt. Schon regelmäßig eine halbe Stunde „Lichttherapie“ am Morgen kann positive Stimmungseffekte haben.


Helle Hilfe: Markus Heinrichs empfiehlt, um die Mittagszeit einen Spaziergang zu machen oder regelmäßig eine Tageslichtlampe am Morgen zu nutzen. Foto: Jürgen Gocke

Müssen wir uns mehr Sorgen um ältere oder um junge Menschen machen?

Tobias Stächele: Das ist weniger vom Alter als von den Lebensumständen abhängig. Zwar gelten ältere Menschen als Risikogruppe und haben deshalb vermutlich vermehrt Angst vor einer Ansteckung. Aber wer schon vor der Pandemie eine stabile Alltagsstruktur und ein tragfähiges soziales Netz hatte, ist weniger gefährdet als jemand, der sich schon vorher einsam und wenig eingebunden gefühlt hat. Das betrifft junge ebenso wie alte Menschen.

Suchen auch Universitätsangehörige bei Ihnen Rat? Die pandemiebedingten Herausforderungen könnten für den einen oder die andere zur Überforderung werden.

Markus Heinrichs: Natürlich steht unsere Ambulanz auch allen Universitätsangehörigen offen. Nach meiner Einschätzung legen sich hier in diesen Zeiten alle ins Zeug, um den Studien-, Lehr- und Forschungsbetrieb auch unter schwierigen Bedingungen gut am Laufen zu halten und Überforderungen vorzubeugen. Allen Studierenden unserer Universität wurde versichert, dass sich kein Studium unnötig verlängern wird. Lehrende haben Onlineveranstaltungen in kürzester Zeit erfolgreich umgesetzt. Auch wir schaffen es, etwa unsere Stressdiagnostik unter Corona-Bedingungen fortzuführen, obwohl dies mit erheblich größerem Laboraufwand für unser Team verbunden ist. Aber wir haben dabei viel gelernt und eine eher sportliche Haltung entwickelt, das unbedingt gemeinsam meistern zu wollen.