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„Die Natur ist kein Gegenüber“

Eine Kulturanthropologin und ein Geobotaniker diskutieren, welche Rolle der Mensch im Anthropozän spielt – einem Zeitalter, in dem er auch zerstörerische Spuren hinterlässt

Freiburg, 13.07.2021

In dem Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt „Öko-logics“, das Ende Oktober 2020 in Freiburg startete und aufgrund der Coronapandemie auf den Sommer 2021 verschoben wurde, geht es um die künstlerische und wissenschaftliche Erkundung der „neuen Sphären der Welt“. Im Zentrum stehen zwei miteinander zusammenhängende Themen: das Anthropozän und der Anthropozentrismus, der den Menschen im Mittelpunkt alles Geschehens und Seins sieht. Die Pandemie ist nicht das erste globale Ereignis, das die Unhaltbarkeit dieser Perspektive auf die Welt bestätigt. Auch der Klimawandel und das Artensterben zeigen: Menschen sind nicht Herrschende über die Lage, sondern sind mittendrin. Die Kulturanthropologin Dr. Marion Mangelsdorf und der Geobotaniker Prof. Dr. Michael Scherer-Lorenzen, die beide an der Universität Freiburg forschen, sind mit eigenen Projekten an „Öko-logics“ beteiligt. Dietrich Roeschmann hat sie gefragt, welche Zusammenhänge sie zwischen Natur und Kultur sehen und welche Rolle diese Themen in ihrer Arbeit spielen.


Welchen Klang hat die Natur? Michael Scherer-Lorenzen erforscht anhand der Sound Ecology die akustische Signatur eines Ökosystems. Foto: Michael Scherer-Lorenzen

Herr Scherer-Lorenzen, es ist in letzter Zeit viel vom Anthropozän die Rede. Ist der Begriff für Sie plausibel?

Michael Scherer-Lorenzen: Die Stratigrafie lehrt, dass wir seit Ende der letzten Eiszeit im geologischen Zeitalter des Holozän leben. Doch es gibt gute Argumente dafür, das zu präzisieren. Tatsächlich sind wir mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem menschliches Handeln so deutliche Spuren auf der Erde hinterlassen und qualitative Änderungen bewirkt hat, dass diese auch nach dem Ende der Menschheit noch geologisch nachweisbar sein werden. Der niederländische Forscher Paul Crutzen prägte dafür vor 20 Jahren den Begriff „Anthropozän“, und ja, ich finde ihn plausibel.

Warum?

Michael Scherer-Lorenzen: In meinem Forschungsgebiet, der Geobotanik, beobachten wir seit Längerem eine Veränderung der Biodiversität. Die Vielfältigkeit des Lebens ist aktuell in einem dramatischen Wandel begriffen, der sich in vielen Hunderttausend und Millionen Jahren im geologischen Sediment nachweisen lassen wird. Wer auch immer dann die Bohrkerne aus den Sedimenten unserer Gegenwart analysieren wird, wird sich fragen: Warum fehlen hier plötzlich Fossilien, die eigentlich vorhanden sein müssten? Warum sind so viele Organismen nicht mehr nachweisbar?

Wie verändert sich der Blick auf die Menschen, wenn man sie nicht nur als historische, soziale, politische Akteur*innen beschreibt, sondern als geologische Größe?

Marion Mangelsdorf: Ich finde hier die Metapher des Bergbaus hilfreich. Mit dem Bergbau begann der Mensch in die Erde hineinzugehen, sich in ihre geologischen Tiefen vorzuarbeiten, um ihre Schätze zu bergen. Dieses Hineingraben hat etwas verändert in der Perspektive der Menschen auf die Welt. Heute können wir beobachten, dass Natur- und Kulturzusammenhänge viel stärker ineinandergreifen, als wir das bislang gesehen haben. Bleiben wir beim Bergbau: Carolyn Merchant beschreibt in ihrem Buch „The Death of Nature“, wie Metaphern des Bergbaus einhergehen mit Ausbeutungsverhältnissen menschlicher Arbeitskraft. Die Vorstellung, dass der Mensch der Erde ihre Schätze aus dem Leib reißen müsse, lässt sich durchaus als Vergewaltigungsmetapher verstehen, die viel über das Verhältnis der Menschen zur Natur verrät. Der Begriff „Anthropozän“ beschreibt den Eintritt des Menschen in die Erdgeschichte, der seit der Industrialisierung die Entwicklung auf der Erde maßgeblich und zunehmend beeinflusst. Durch sein Handeln ist er so sehr in den Mittelpunkt gerückt, dass mit den Dingen und Artefakten und Neuerungen, die er initiiert hat, so große Probleme entstanden sind, dass wir uns immer stärker darum kümmern müssen.

Michael Scherer-Lorenzen: Ich würde dem zustimmen. Die Folgen des starken Eingriffs der Menschen in die Ökosysteme haben den engen Zusammenhang von Natur und Kultur ins Bewusstsein gebracht. Nehmen wir die Coronapandemie. Sie erzählt etwas darüber, wie wir mit unserer Umwelt umgehen. Wie wir in Ökosysteme eingreifen und dadurch plötzlich eine Nähe herstellen zu Krankheitserregern, die eigentlich nur in tierischen Populationen zu Hause sind. Bringen wir Mensch, Tier und Virus eng zusammen, dann ermöglichen wir ihnen, biologische Grenzen zu überspringen, die früher als unüberwindbar galten. Die Grenzen zwischen gesellschaftlichen und ökologischen Systemen werden löchriger. Hier zeigen sich Natur und Kultur plötzlich aufs engste miteinander verzahnt. Zugleich zeigt die Pandemie aber auch, dass es für uns Menschen kein Außen mehr gibt, wie wir uns das lange vorgestellt haben. Die Natur ist kein Gegenüber, sondern wir sind Teil von ihr, stehen mittendrin in dem schmalen Horizont des Lebens, der die Erde umhüllt.


Der Mensch hat die Lage nicht im Griff, aber er muss handeln: „Es lehrt uns Bescheidenheit und sollte die Bereitschaft fördern, miteinander ins Gespräch über eine gute Zukunft zu kommen“, sagt Marion Mangelsdorf. Foto: Marion Mangelsdorf

Marion Mangelsdorf: Das sagen auch Lynn Margulis und James Lovelock mit ihrer Gaia-Hypothese. Ihnen zufolge ist die Erde mit der sie umhüllenden Atmosphäre ein Lebewesen, dessen Teil wir sind. Das Bild vom Blauen Planeten, das in den 1960er Jahren nach der ersten Mondlandung so populär wurde, zeigt eine Außenperspektive, die es für uns nicht wirklich gibt. Wir haben diesen Blauen Planeten nicht in der Hand, auch wenn wir glauben, ihn bewahren zu können.

Frau Mangelsdorf, Sie bieten im Rahmen von „Öko-logics“ einen Workshop über Gaia-Utopien an. Worum geht es?

Marion Mangelsdorf: Margulis und Lovelock beschrieben die Erde als einen Hyperorganismus, zu dem auch wir gehören. Versuchten wir, gegen seine Gesetzmäßigkeiten anzuarbeiten, würden wir ihn grundlegend schädigen und die Situation könnte kippen – sowohl in der Atmosphäre, die Lovelock erforschte, als auch in der Welt der Mikroorganismen, die für Margulis im Zentrum ihrer Arbeit standen. Auch „Öko-logics“ kreist um dieses Thema, das ich gerne in einem partizipativen Workshop mit anderen Menschen diskutieren möchte.

Wo bildet sich der Diskurs des Anthropozäns in der kulturanthropologischen Forschung ab?

Marion Mangelsdorf: Ein Beispiel: In einem gemeinsamen Projekt mit der NGO „Biodiversity International“ haben wir unterschiedliche Waldnutzungen von Männern und Frauen untersucht und gefragt, ob es eine Möglichkeit gibt, sie anders zu gendern. Ich bin als Anthropologin dazu geholt worden, weil es wichtig war, mit Frauen-Communities in Dialog zu kommen, die sich von öffentlichen Bekanntmachungen nicht angesprochen fühlen. Es ist uns gelungen, den Frauen und Männern ihre stark segregierten Aufgabenbereiche gegenseitig näherzubringen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie sie zusammen Veränderungen voranbringen können. Wir stehen ja alle vor großen Fragezeichen. Egal ob in Aserbaidschan, Europa oder in den Western Ghats: Überall sehen wir deutliche Veränderungen der Biodiversität und fragen uns, wie wir darauf reagieren können. Angesichts dessen erkennen wir, dass der Mensch die Lage nicht im Griff hat, wie er es seit der Moderne glaubte. Das ist faszinierend und beängstigend zugleich. Es lehrt uns Bescheidenheit und sollte die Bereitschaft fördern, miteinander ins Gespräch über eine gute Zukunft zu kommen. Egal, an welchem Ort.

Inwieweit berührt diese Diskussion auch Ihre Forschung, Herr Scherer-Lorenzen?

Michael Scherer-Lorenzen: In unserer Arbeitsgruppe befassen wir uns mit der Frage, welche Konsequenzen die Veränderung der Biodiversität innerhalb eines Ökosystems hat. Einige dieser Prozesse haben direkte Auswirkungen auf unser menschliches Wohlergehen, die wir Ökosystemleistungen nennen, also Dinge, die wir frei Haus von der Natur bekommen. Sauberes Wasser, saubere Luft, Rohstoffe, Chemikalien, Substanzen für Medikamente – all das basiert auf der Verfügbarkeit in Ökosystemen. Bei der Bereitstellung dieser Services spielt Biodiversität eine zentrale Rolle. Verschwinden zum Beispiel bestimmte Organismen, die wie Pilze oder Bakterien wichtig sind für die Regeneration von verschmutztem Wasser, funktionieren solche Prozesse der Selbstreinigung plötzlich nicht mehr.


„Auf lange Zeit gesehen hat Biodiversität immer zugenommen, darum müssen wir uns keine Sorgen machen. Aber wir sollten uns Sorgen um uns selbst machen“, sagt Michael Scherer-Lorenzen. Foto: Jürgen Gocke

Im Rahmen von „Öko-logics“ werden Sie einen Vortrag über die Darstellbarkeit von Biodiversität mit akustischen Mitteln halten. Was hat es damit auf sich?

Michael Scherer-Lorenzen: Mein Forschungsgebiet nennt sich Soundscape Ecology. Wenn im Frühling die Vögel zwitschern, im Sommer die Insekten brummen, im Herbst der Hirsch röhrt, dann sind das Lautäußerungen der Tierwelt. Hinzu kommen Wind- und Wassergeräusche sowie das Rauschen des Verkehrs und andere menschengemachte Klänge. Zusammengenommen bilden diese Sounds die akustische Signatur eines Ökosystems. Anhand dieser Signatur möchten wir herausfinden, ob es möglich ist, Veränderungen der Biodiversität frühzeitig zu erkennen und hörbar zu machen.

Welche Rolle spielen Pflanzen in der Soundscape Ecology?

Michael Scherer-Lorenzen: Pflanzen sind hier weniger Geräuschquellen als Mediatoren. Sie bilden das Habitat und die Nahrungsgrundlage für die vielen Organismen, die sie bevölkern. Und sie machen Kräfte hörbar, die auf das Ökosystem wirken. Nicht nur Wind und Regen, auch Trockenheit wird durch sie akustisch wahrnehmbar, etwa wenn Kiefernzapfen in der Hitze aufplatzen oder vertrocknete Nadeln auf den Boden rieseln. Zudem erzeugen Bäume unter Trockenstress im Ultraschallbereich Klicklaute, die das Reißen des Wasserfadens im Stamm verursacht. Diese Klicklaute kann man messen, um den Trockenstress von Wäldern zu quantifizieren. So lassen sich auch die Folgen des Klimawandels sehr eindrucksvoll zu Gehör bringen.

Zukunft stellt sich von heute aus gesehen nicht unbedingt rosig dar. Der Begriff des Anthropozäns schlägt eine katastrophische Sicht auf die Welt vor, lädt dazu ein, sie gewissermaßen von ihrem Unhappy End her zu denken. Ist auch eine positive Perspektive denkbar?

Michael Scherer-Lorenzen: Ja, natürlich. Schauen wir uns die Entwicklung vom Happy End aus an, dann können wir sicher davon ausgehen, dass sich die Biodiversität erholen wird. Wenn es zum sechsten Massenaussterben kommen sollte, wird das trotzdem nur eine Episode in der Erdgeschichte bleiben. Auf lange Zeit gesehen hat Biodiversität immer zugenommen, darum müssen wir uns keine Sorgen machen. Aber wir sollten uns Sorgen um uns selbst machen. Aber auch das ist ein positiver Reflex, denn der Diskurs des Anthropozäns legt ja nahe: Die Menschen haben Einfluss. Wir wissen, wie wir es besser machen könnten. Wir wissen, wie man nachhaltig wirtschaften und konsumieren könnte, wie man Ökologie und Ökonomie zusammenbringen könnte. Wir sollten es jetzt bloß auch tun.

Sind wir dazu bereit?

Marion Mangelsdorf: Bruno Latour sagt: Wir müssen dramatisieren und wir müssen entdramatisieren. Das finde ich sehr wichtig. Dramatisieren, indem wir ein Bewusstsein dafür schaffen, wie sehr alles miteinander verschränkt ist – und entdramatisieren, damit wir wieder handlungsfähig werden. Es geht darum, beides in eine gute Balance zu bekommen. Auf der einen Seite sollten wir sensibilisieren für die Komplexität der Zusammenhänge und klarmachen, dass es keine einfachen und bequemen Lösungen für die Herausforderungen des Anthropozäns gibt. Auf der anderen Seite aber müssen wir trotzdem Möglichkeiten finden, einzugreifen. Wir müssen sehen, dass sich Dinge zum Positiven wenden lassen und wir unseren Anteil daran haben können.

Michael Scherer-Lorenzen: Ich würde das Paar „Dramatisieren und Entdramatisieren“ gerne ergänzen um das, was ich vorhin ansprach: Information und Emotion. Das könnten die beiden Achsen sein, entlang derer sich eine Diskussion über die Weiterentwicklung menschlicher Gesellschaften im Anthropozän bewegen kann. Wir brauchen Informationen, den aktuellen Wissensstand, die Prognosen – das sind die Werkzeuge, die uns in der Wissenschaft zur Verfügung stehen, sei es im Kontext indigener Communities oder der High-Tech-Forschung. Und wir brauchen Emotionen, um Dinge sinnlich zu begreifen, nicht zuletzt um die Menschen – vor allem junge Menschen – für eine Sache zu begeistern.

„Öko-logics. Die neuen Sphären der Welt“