Vorab publizieren, danach debattieren
Freiburg, 26.01.2021
Forschungsergebnisse werden nicht mehr nur in Büchern oder Zeitschriften veröffentlicht, sondern auch digital auf Pre-Publication-Servern (PPS). Forschende können dort Ergebnisse publik machen, die noch nicht im Peer Review, also von erfahrenen Fachleuchten, begutachtet wurden. Wolfgang Hochbruck, Professor für Nordamerikastudien an der Universität Freiburg, hat sich als Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft (GfS) in einer Stellungnahme mit dieser neuartigen Publikationsform beschäftigt. Hans-Dieter Fronz hat mit ihm über deren Vor- und Nachteile für die Wissenschaft gesprochen.
Austausch im digitalen Raum: Wären Wissenschaftler in der Erforschung des Coronavirus auch ohne Pre-Publication-Server so schnell vorangekommen? Foto: Sandra Meyndt
Herr Hochbruck, warum werden Forschungsergebnisse auf Pre-Publication-Servern vorab veröffentlicht?
Wolfgang Hochbruck: Es erweitert die wissenschaftliche Freiheit. Bisher gab es oft lange Wartezeiten zwischen Einreichung und Erscheinen einer Publikation in einer renommierten Fachzeitschrift. Schon weil der Andrang groß ist. Auf einem Pre-Publication-Server können Forschende einstellen, was zur Veröffentlichung fertig ist. Andere können sich das dann schon einmal ansehen und kommentieren.
Es geht also vor allem darum, frühzeitig auf Ergebnisse zugreifen zu können?
Ja, genau. Wir wären in der Erforschung des Coronavirus sicher nicht so schnell so weit gekommen, wenn es diese Art von Austauschmöglichkeit nicht gegeben hätte. Da haben tatsächlich Forschende aus Australien, China, Nordamerika, Großbritannien und Deutschland alle an einem Strang gezogen. Ein konkretes Beispiel ist der Virologe Prof. Dr. Christian Drosten, der eine Publikation in einem PPS eingestellt hatte. Die wurde kritisiert, er nahm sie daraufhin zurück, überarbeitete sie und stellte sie mit geänderten Angaben wieder ein. Daran gab es in den deutschen Medien Kritik, so nach dem Motto: „Der kann doch nicht etwas Unfertiges in Umlauf bringen.“ Das Beispiel macht aber deutlich, wie Wissenschaft funktioniert und wie Fortschritte erzielt werden, nämlich in einem offenen Prozess, in dem Erkenntnisse weiterentwickelt und im Ergebnis verbessert werden.
In einer Stellungnahme der GfS sprechen Sie von der Unüberschaubarkeit von Veröffentlichungen und der Überflutung durch Information. Befördern Pre-Publication-Server diese Entwicklung nicht noch weiter?
Man fragt sich schon, wer da noch den Überblick behalten kann. Zudem könnte beispielsweise jemand behaupten, sie hätten eine tolle Lösung gefunden, während andere Forschende abwinken. Einige Medien, die Wissenschaftsjournalismus betreiben, lauern auf diesen Publikationsplattformen auf etwas Verwertbares, greifen das Thema auf, und das schlägt dann politisch unnötig Wellen. Das eigentliche Problem aber ist das der Weiterverbreitung, dieses neuartige Phänomen des Postfaktischen. Fakten sind ja selbst nicht veränderbar, aber ihre Kommunikation ist es. Was wird wie in Umlauf gebracht? Wie wird das diskursiv behandelt? Wenn da irgendein medienwirksamer Unsinn den gleichen Stellenwert erhält wie das Belegbare, dann wird es nochmal eine Nummer komplexer. Und möglicherweise gefährlich.
Das Problem mit dem Postfaktischen: Besonders gefährlich werde es, wenn medienwirksamer Unsinn den gleichen Stellenwert erhalte wie wissenschaftliche Fakten, findet Wolfgang Hochbruck. Foto: Sandra Meyndt
Unterm Strich sind Sie dennoch überzeugt, dass diese Plattformen einen Fortschritt bedeuten?
Ich lehne hierarchische Strukturen ab, erst recht die Ausbeutung wissenschaftlicher Ergebnisse durch einige wenige Wissenschaftsverlage. Wenn sich diese Praxis als Zwischenform wissenschaftlicher Veröffentlichungen durchsetzen sollte und wenn man verhindern kann, dass das in die falschen Hände gerät, ist das Wissenschaft, wie sie eigentlich sein sollte. Eben in einem offenen, kollegialen Austausch und mit dem Ziel eines Handelns für die betroffenen Menschen. Die guten und haltbaren Ergebnisse werden ja auch noch abschließend publiziert. Mit dem entsprechenden wissenschaftlichen Ethos dahinter funktioniert das.
In der Erforschung des Coronavirus war es offenbar sinnvoll, noch nicht evaluierte Ergebnisse zugänglich zu machen. Aber ist am Ende nicht doch eine Form von Evaluation notwendig?
Dafür müssen wir noch an einem anderen Punkt ansetzen. Wir müssen wegkommen von dem Denken „Ich muss publizieren, damit ich weiter Fördergelder kriege.“ Dieses Quantifizieren hat Massen an Veröffentlichungen nach sich gezogen. In den Natur- und Technikwissenschaften wurden die dann teilweise so dünn geschnitten, dass der Überblick verloren ging. 50 Prozent aller Publikationen in den Geisteswissenschaften wiederum liest sowieso kein Mensch. Das alles wurde Teil einer Bereitstellungskultur, die beweisen soll, dass es einen wissenschaftlichen Betrieb gibt.
Wann ist diese Lawine an wissenschaftlichen Publikationen eigentlich angerollt?
Das dürfte in den 1970er Jahren begonnen haben, als die große Ausbauphase des Wissenschaftsbetriebs erstmal endete und nicht mehr ständig neue wissenschaftliche Stellen angeboten wurden. Dadurch verschärfte sich die Konkurrenz zwischen Forschenden, und die Zahl der Publikationen stieg rasant an. Seit etwa zehn Jahren gibt es Bemühungen, dem ein Stück weit Einhalt zu gebieten und verstärkt qualitative Evaluationssysteme einzuführen.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass der wissenschaftliche Publikationsbetrieb in eine gute Richtung geht?
Wenn ich nicht zuversichtlich wäre, könnte ich meinen Job nicht machen. Ich habe zwar meine schwarzen Momente, aber meistens bin ich eigentlich recht positiv gestimmt. Und ehrlich gesagt, so wie der Wissenschaftsbetrieb bisher mit dem Coronavirus umgegangen ist, finde ich das auch aus sicherheitswissenschaftlicher Sicht ermutigend.
Stellungnahme der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft (GfS)