Vielfalt im Eilverfahren
Freiburg, 28.04.2020
Seit der Coronakrise ist beinahe nichts, wie es einmal war – und das kann auch etwas Gutes haben: „Wir wurden schnell gezwungen, unsere Vorstellungen von Arbeit zu ändern“, sagt Dr. Aniela Knoblich und unterstreicht die Flexibilisierung, die damit im Eiltempo an der Universität Freiburg Einzug gehalten habe. Die Leiterin der Stabsstelle Gender and Diversity beschreibt in einem jüngst veröffentlichten Beitrag, welchen Wandel die Pandemie in Gang gebracht habe und wie sich diese Veränderungen auf den Umgang mit Vielfalt auswirkten. Mit Rimma Gerenstein hat Knoblich darüber gesprochen, welches Potenzial sie in den neuen Formen von Arbeit, Lehre und Kommunikation sieht – und was nach der Krise bleiben könnte.
Grafiken, Kaffee, Katze: Im Homeoffice arbeitet es sich anders als im Büro.
Foto: agcreativelab/stock.adobe.com
Frau Knoblich, seit der Coronakrise durchlebt die Universität Freiburg massive Veränderungen, und zwar im Eilverfahren. An einer Traditionseinrichtung gehen die Dinge normalerweise gemächlicher ihren Gang. Spüren Sie das Beben?
Aniela Knoblich: Ja, natürlich. Das Beben spüren alle, denke ich. Wir waren alle gezwungen, sehr schnell zu reagieren und Dinge umzustellen, von denen wir niemals gedacht haben, dass sie sich verändern würden – geschweige denn so schnell.
Was denn zum Beispiel?
Arbeitsformen. Bei mir war es so, dass ich von einem Tag auf den anderen nicht mehr in mein Büro kommen durfte, denn ein paar Tage zuvor war ich im Elsass gewesen. Das hieß erstmal zwei Wochen Quarantäne. Doch dann waren nahezu alle im Homeoffice, weil sich die Regelungen verschärft hatten. An der Universität hatten wir das Homeoffice bisher vor allem als eine Option für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesehen, als so eine Art Entgegenkommen des Arbeitgebers. Ich hatte immer den Eindruck, dass Telearbeit auch etwas beargwöhnt wurde: Sind die Leute denn auch wirklich fleißig zu Hause? Von heute auf morgen wurde das aber zur gängigen Arbeitsform für die meisten.
Die Leute mussten also ihre Vorstellungen von Arbeit verändern?
Genau, und damit ging eine Flexibilisierung einher, die wir bisher nur Einzelnen ermöglichten. Jetzt dürfen und müssen alle viel flexibler sein. Wer im Homeoffice arbeitet, macht das nicht unbedingt so wie im Büro. Vielleicht arbeiten wir zu anderen Zeiten, betreuen nebenbei Kinder, machen anders Pause. Und damit erleben wir eine Vielfalt, zum Beispiel einen Wechsel der Perspektive auf unsere Arbeit an der Universität: Was ist jetzt gerade wichtig, was später? Wie kann ich diese Aufgabe auch unter veränderten Bedingungen gut erledigen? Von Perspektivwechseln lebt Diversity.
Perspektivwechsel bedeutet: Ich merke, mein Gegenüber ist anders als ich. Meinem Gegenüber sind vielleicht andere Dinge wichtig.
Ja, und das kann noch weiter gehen: Dass ich erkenne, dass das Wertesystem eines anderen Menschen genauso seine Berechtigung hat. Oder sogar noch weiter: Dass ich darauf mit entsprechendem Verhalten und Respekt reagiere, vielleicht auch davon lernen kann. Konkreter ausgedrückt: Wir wissen, dass nicht alle Beschäftigten immer dem gängigen Arbeitsmodell entsprechen können, etwa aufgrund einer Erkrankung. Damit ist aber noch gar nichts über die Leistungsfähigkeit ausgesagt. Präsenz am Arbeitsplatz ist nicht gleichbedeutend mit Leistung. Diesen scheinbaren Widerspruch anzuerkennen ist Teil einer Diversity-Kompetenz. Und gerade in der Coronakrise erleben wir viele Widersprüche, mit denen wir leben müssen.
Können Sie das näher ausführen?
Wir merken fast in jedem Alltagsgespräch: Es gibt viele Ängste, Unsicherheiten und Sorgen; um die berufliche Zukunft, die Gesundheit oder um die finanzielle Situation. Und zugleich sehen wir auch viele Chancen. Auf einmal sagen die Leute: Ich habe jetzt viel mehr Zeit als vorher, um spazieren zu gehen, ein Buch zu lesen. Menschen verbringen plötzlich viel Zeit mit ihren Kindern – schön für das Familienleben, aber auch ein Stressfaktor. Die Realität ist immer widersprüchlich, aber in einer Krise wird uns das stärker bewusst. In der Diversity-Arbeit geht es auch darum zu lernen, Widersprüche so zu verarbeiten, dass man sie aushält.
Aniela Knoblich gefällt es, dass nun neue Arbeitsformen entstehen – das sorge für einen Wechsel der Perspektive. Foto: Brian Barnhart
Ich denke an einen weiteren Widerspruch: Einerseits heißt es, Pandemien seien die großen Gleichmacher der Gesellschaft, denn sie unterscheiden nicht zwischen Geschlecht, Alter oder Nationalität.
Aber so eine Pandemie trifft die Leute jeweils anders, da liegt der Widerspruch. Für Menschen in prekärer Beschäftigung, für Alleinerziehende oder chronisch Kranke zum Beispiel ist die Pandemie viel bedrohlicher als für andere. Erst kürzlich habe ich gelesen, dass in den USA ungleich mehr Schwarze als Weiße an Covid-19 erkrankt sind. Das hat etwas damit zu tun, dass sie häufig wirtschaftlich nicht so stark gestellt sind, in dichter besiedelten Gebieten leben, wo sich Abstandsregeln nicht gut einhalten lassen, und keinen guten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Das sind strukturelle Gründe. So eine Krise verschärft sogar bestehende Ungleichheiten.
Und das gilt auch für die sozialen Unterschiede an der Universität?
Ich glaube, dass diese Unterschiede an der Universität nicht so krass sind wie gesamtgesellschaftlich betrachtet. Aber mit dieser Aussage muss man vorsichtig sein, denn natürlich gibt es auch an der Universität unterschiedliche Berufsbilder und Menschen mit unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft. Ich denke da zum Beispiel an die digitale Lehre. Das nächste Sommersemester wird von E-Learning geprägt sein. Das ist für Studierende, die sich keine gute Internetverbindung leisten können, die zu Hause kein entsprechendes Arbeitsumfeld haben, ungleich schwieriger.
Dabei liegt in der digitalen Lehre auch eine große Chance, die Diversität zu stärken.
Ja, denn an digitaler Lehre können auch solche Studierenden teilhaben, denen es zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht immer möglich ist, im Hörsaal anwesend zu sein. Wobei digitale Lehre nicht zwangsläufig mit „Diversity-Förderung“ zu übersetzen ist. Aber natürlich birgt sie wichtige Potenziale. Jetzt müssen sich auch Leute mit digitaler Lehre auseinandersetzen, die es sonst nie getan hätten. Vielleicht verändert sich dadurch ihr Blick auf die übliche Lehre und sie verstehen, dass sie mit digitalen Elementen bestimmte Inhalte sogar besser vermitteln oder manche Studierende besser einbeziehen können.
Wie lange werden solche Effekte der Krise wohl andauern?
Ich kann natürlich keine Prognosen abgeben, aber diese Frage betrifft nicht nur die Universität, sondern die ganze Gesellschaft. Wie lange wird zum Beispiel die Solidarität unter einander anhalten? Was machen wir mit der Erkenntnis, dass es „systemrelevante Berufe“ gibt, die leider miserabel bezahlt sind? Genügt es dann, einen Jahresbonus zu zahlen, oder muss man nicht viel mehr systemisch etwas verändern? Die Krise ist ja kein Instrument zur Sensibilisierung für mehr Diversity, das ist kein Selbstläufer. Ich glaube aber, dass diese Zeit uns etwas über die Veränderbarkeit von universitären Systemen lehren kann. Auf einmal gibt es neue Arbeitsformen, Lehrformen oder Formen der Kommunikation untereinander. Wir erleben, dass wir als Institution flexibler sind, als wir selbst dachten.
Was stellen Sie bei der Kommunikation fest?
Wenn man Nachrichten schaut, sieht man dieser Tage bei fast jeder offiziellen Verlautbarung eine Übersetzung in Gebärdensprache – ob in Deutschland, Italien oder den USA. Das geht auf die Intervention von Gehörlosenverbänden zurück. Sie fanden: Die Informationen zur Coronakrise sind so wichtig, wir können nicht riskieren, dass sie bestimmte Menschen nicht mitbekommen. Das wurde schnell international umgesetzt. Offenbar wurde erkannt, dass es eine große Gefahr wäre, wenn gehörlose Menschen, für die Körperkontakt in der Kommunikation sehr wichtig ist, aus Unwissenheit über die Pandemie nicht auf Abstand gingen. Das würde ihnen selbst, aber auch den anderen schaden. Auch an der Universität diskutieren wir immer wieder, ob wir zum Beispiel bei großen Veranstaltungen eine Übersetzung für Gebärdensprache anbieten.
Das ist vermutlich eine ökonomische Abwägung.
Klar, und sie hat auch ihre Berechtigung. Andererseits: Wenn ich als Universität sage, ich möchte, dass alle Beschäftigten unsere Werte mittragen und sie in ihrem Arbeitsleben umsetzen, muss ich diese Werte für alle in verständlicher Form kommunizieren.
„Zu Gender und Diversity an der Universität in Zeiten der Pandemie“