Mit Plenum, Parlament und Kabinett
Freiburg, 29.08.2018
Knirschen und Knurren. Das löst Prof. Dr. Karl Jakobs manchmal bei einigen seiner Kolleginnen und Kollegen aus: Der experimentelle Teilchenphysiker von der Universität Freiburg ist Wissenschaftlicher Leiter (Spokesperson) für das ATLAS-Projekt. An dem Teilchendetektor arbeiten rund 3.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 182 Instituten und 38 Nationen. Jakobs und sein Team treffen wichtige Entscheidungen für die gesamte Kollaboration. Er ist der erste Deutsche, der für ein Experiment am Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) im internationalen Forschungszentrum CERN bei Genf/Schweiz als Spokesperson im Einsatz ist. Nicht jeder Beschluss löst Jubel aus. Doch Jakobs macht den Job offensichtlich gut: Gerade hat man ihn mit großer Mehrheit für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Jürgen Schickinger hat den Physiker gefragt, wie er seine Aufgabe gestaltet.
Seit 1992 – also seit dem Startschuss – arbeitet Karl Jakobs am ATLAS-Experiment mit. Als Spokesperson lenkt er seit einigen Jahren die Geschicke des riesigen Projekts.
Foto: Jürgen Gocke
Herr Jakobs, welche Aufgaben haben Sie als Spokesperson genau?
Karl Jakobs: Hauptsächlich bin ich wissenschaftlicher Leiter der ATLAS-Kollaboration. Darüber hinaus vertrete ich ATLAS nach außen hin, also etwa gegenüber dem Management vom CERN, gegenüber den Geldgebern aus 38 Ländern und gegenüber Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten.
Was bedeutet wissenschaftliche Leitung bei einem Teilchendetektor konkret?
Ich muss die Weichen stellen, welche Richtung das Physik-Programm von ATLAS nimmt. Die Millionen an Teilchenkollisionen im Zentrum des Detektors liefern beispielsweise viel mehr Daten, als wir erfassen können. Welchen Bruchteil der Daten nehmen wir auf, welche filtern wir sofort weg? Da muss ich manchmal harte Entscheidungen fällen. Zudem laufen aktuell auch Vorbereitungen auf den ATLAS-Ausbau, um den Detektor für höhere Intensitäten und Kollisionsraten aufzurüsten. Von 2024 bis 2026 werden wir neue Detektorkomponenten einbauen. In einem Bereich gab es dabei ein Konzept, das auf der etablierten Standardtechnik basiert, und ein zweites mit einer neuen zukunftsträchtigen Technik, die großes Potenzial besitzt. Sie erscheint mir jedoch noch nicht ausgereift und wir haben uns für die Standardtechnik entschieden. Zuletzt muss ich noch dafür sorgen, dass ATLAS schneller ist oder mindestens mithalten kann mit der Konkurrenz: Die Kollaboration am CMS-Detektor im CERN verfolgt dieselben Ziele wie wir. Wir stehen in freundschaftlicher Konkurrenz.
Der Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider ist 27 Kilometer lang und liegt 50 bis 150 Meter tief in der französischen und schweizerischen Erde.
Foto: CERN
Unter 3.000 Menschen herrscht selten Einigkeit. Sorgen Ihre Beschlüsse nicht manchmal zusätzlich für Krach?
Emotionale Ausbrüche sind zum Glück selten. Unsere Meetings verlaufen meistens sehr wissenschaftlich. Alle verfolgen ein gemeinsames Ziel. Wir versuchen, Beschlüsse im Konsens zu erreichen und Probleme schnell zu lösen. Gelegentlich gibt es aber auch Knurren und Raunen: Vor Kurzem habe ich mich etwa bei einigen Arbeitsgruppen unbeliebt gemacht, die neue Detektorkomponenten in Betrieb nehmen. Dabei kam es zu deutlichen Verzögerungen, weil sie zu wenige Wissenschaftler und Ingenieure eingesetzt hatten. Die habe ich jetzt gefordert. Serviceleistungen, wie etwa Detektoren zu eichen, will keiner übernehmen. Das bringt keinen Ruhm. Alle wollen lieber Daten analysieren und Physikergebnisse produzieren. Aber Serviceleistungen sind für eine gute Physikanalyse essenziell.
Gehen Sie Konfliktpunkte direkt oder taktisch an?
Ich habe eine Watch-Liste kritischer Projekte, die ich auf jedem großen Meeting zeige. Das ist ein bisschen wie an den Pranger gestellt zu werden, aber sehr effizient. Auf die Liste will niemand und wenn, bemüht sich die entsprechende Gruppe, schnell wieder herunter zu kommen. Das schlimmste, was man bei problematischen Entscheidungen falsch machen kann, ist, in ein Meeting zu gehen und zu sagen: „Das machen wir jetzt so und so!“ Damit laufen Sie gegen die Wand. Um einverständliche Entscheidungen vorzubereiten, muss man wichtige Punkte vorab mit einzelnen Personen besprechen. Sie tragen diese Fragen dann zudem in ihre Gruppen hinein. Als Spokesperson dürfen sie auch die die Postdocs, die Ingenieurinnen und Ingenieure sowie die Promovierenden nicht vernachlässigen. Sonst bekommen Sie eine Basisrevolte. Aber solche Entscheidungen fälle ich ja sowieso nicht allein.
Wer redet da mit?
Wir sind ähnlich wie eine Regierung organisiert. Es gibt ein „Plenum“, an dem alle 3.000 Beteiligten teilnehmen können, und das Collaboration Board, eine Art „Parlament“, in dem alle 182 beteiligten Institute jeweils eine Stimme haben. Wir haben das Executive Board, ein „Kabinett“ mit „Ministerinnen und Ministern“, die jeweils ein Teilgebiet koordinieren – etwa die verschiedenen Detektorkomponenten, die Datennahme oder die Physikanalysen. Weiter gibt es die „Regierungsspitze“, zu der mein Management-Team und ich als Spokesperson gehören. Die Geldgeber von ATLAS bilden ein Kontrollgremium, dem ich zweimal pro Jahr Bericht erstatten muss. Alle diese Gruppen und Personen haben ein Mitspracherecht, treffen Vorauswahlen und arbeiten Vorschläge aus. Am Ende entscheidet dann die „Regierungsspitze“.
Forschende aus 38 Ländern wollen im ATLAS-Experiment am CERN, dem Europäischen Labor für Elementarteilchenforschung in Genf/Schweiz, herausfinden, was die elementaren Bausteine des Universums sind.
Foto: CERN
Wie wird jemand Spokesperson bei ATLAS?
Alle 3.000 beteiligten Physikerinnen und Physiker können Personen vorschlagen. Ein Komitee erstellt eine Auswahl. Dann findet die Wahl im Collaboration Board statt. Es gibt keinerlei Quote, also etwa zur Nationalität. Ich glaube, für die Wahl spielt die wissenschaftliche Reputation eine Rolle, aber auch menschliche Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen. Andererseits wollen die Kollegen auch keinen Diktator. Ein Kandidat muss offen sein, sich andere Standpunkte anhören und eventuell auch seine Meinung ändern. Im Grund geht es um klassische Führungsqualitäten.
Macht Ihnen die Aufgabe so viel Spaß, dass Sie sich erneut beworben haben?
Die ATLAS-Kollaboration wollte, dass ich weiter mache. Spokespersons können einmal für eine weitere zweijährige Amtszeit wiedergewählt werden. Ursprünglich wollte ich nach einer Amtszeit aufhören. Aber mittlerweile denke ich, dass zwei Jahre zu kurz sind. Man braucht Zeit, um Dinge zu initiieren und zu ändern und um gute Verbindungen zu wichtigen Gremien aufzubauen.
Nach dem ATLAS-Ausbau laufen die Experimente frühestens 2026 an. Werden Sie da noch aktiv als Wissenschaftler mitmachen?
Ich arbeite seit 1992 an ATLAS mit. Das ist der Großteil meines wissenschaftlichen Lebens, und ich fühle mich ATLAS sehr verbunden. Jetzt bin ich 58 Jahre alt. Als Professor könnte ich bis 68 Jahre arbeiten. Ich weiß aber noch nicht, ob ich das wirklich will. Die Wissenschaft lässt einem sehr wenig Zeit für andere schöne Sachen, wie beispielsweise für die Familie, für Reisen oder zum Lesen guter Bücher. Diese Entscheidung schiebe ich noch ein bisschen hinaus.