Kritisches Denken mehren
Freiburg, 18.03.2019
Seit drei Jahren lehrt Prof. Dr. Manuela Boatcă am Institut für Soziologie der Universität Freiburg. Für Boatcă, die zuerst in Bukarest/Rumänien ihren Abschluss in Anglistik und Germanistik machte, bevor sie in Deutschland Soziologie studierte und an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt promoviert wurde, bedeutet Lehre, sich einerseits der eigenen Macht bei der Wissensvermittlung bewusst zu sein und andererseits von den Studierenden zu lernen. Annette Hoffmann sprach mit ihr über ein verändertes Selbstverständnis der Soziologie, Wissensproduktion und politisches Engagement.
International und interdisziplinär: Fünf Universitäten kooperieren beim Global Studies Programme. Foto: Thomas Kunz
Frau Boatcă, Sie leiten das „Global Studies Programme“ der Universität Freiburg, das sowohl interdisziplinär als auch mit vier Partneruniversitäten international ausgerichtet ist. Ist das Programm ein Zugeständnis an die Globalisierung oder eine Kommentierung und Gestaltung der Globalisierung?
Manuela Boatcă: Es ist kein Zugeständnis an die Globalisierung, sondern eine Erinnerung daran, wie sie überhaupt entstanden ist: nämlich nicht als Projekt des globalen Nordens, sondern durch Prozesse, die vor mehreren hundert Jahren begonnen haben. Dazu gehören etwa der transatlantische Sklavenhandel, Migration und Kapitalflüsse sowie die großen Kirchen. All das hat zuerst den globalen Süden umgestaltet und auf die heutigen Gesellschaften des Nordens rückgewirkt. Im 20. Jahrhundert hat auch der globale Norden bemerkt, dass die Welt global ist. Nur wenn man nach den globalen und historischen Zusammenhängen sucht, kann man sie finden. Wenn man fragt, warum der Westen zentral, erfolgreich und entwickelt ist, bekommt man Antworten über den Westen, seine Entwicklung und seine Zentralität.
Auf der Tagung „Dear White People“, die im Februar 2019 im E-Werk stattfand, haben Sie in Ihrem Vortrag unter anderem über den Soziologen Max Weber und seine rassistischen Beschreibungen von Polen gesprochen. Muss sich die Soziologie ständig erneuern, weil ihr Forschungsgebiet, die Gesellschaft, sich wandelt?
Ja, aber Max Weber ist kein ideales Bespiel dafür, wie sich der herrschende Zeitgeist gewandelt hat. Auch für seine Zeit vertrat Max Weber eine sehr klare nationalistische Position, zugleich war er ein Bewunderer von W.E.B. Du Bois, der mittlerweile auch in der US-amerikanischen Soziologie als Begründer einer anderen kritischen Soziologie gehandelt wird. Die Frage ist, wer als definitorisch für das Fach gilt. Meist werden nicht die Stimmen gehört, die kritisch sind und weniger Macht haben.
Sie haben öfters betont, dass Biografien die Forschung prägen. Das war lange kein Thema in der Wissenschaft, weil die Gruppe der Wissenschaftler homogen war, also: alt, männlich, weiß, überwiegend aus dem Bildungsbürgertum stammend. Muss Wissenschaft hier ehrlicher werden?
Sie muss nicht nur ehrlicher werden, sondern auch horizontaler über Subjektivität denken, weil jedes Wissen subjektiv ist. Paradoxerweise hat Max Weber dies betont, nur wird er meist so nicht gelehrt. Spätestens seit den feministischen Theorien wissen wir, dass der Standpunkt eines Forschenden wichtig ist und jede Fragestellung bestimmte Interessen widerspiegelt.
„Wir werden in der Soziologie immer komplexere Bilder bekommen und keine nett eingegrenzten Tabellen und Tafeln“, betont Manuela Boatcă. Foto: Patrick Seeger
Bedeutet diese neue Vielfalt an Stimmen, die auch demokratische Prozesse widerspiegelt, dass die Soziologie keine allgemeingültigen Aussagen mehr machen kann?
Es kann nicht das Ziel sein, allgemeingültige Aussagen zu machen. Unsere Aufgabe ist, das, was vor sich geht, besser zu verstehen. Das Problem ist, dass einfache Schemata attraktiver sind. Wenn das Ergebnis dieser Reduktion eine schlechte soziologische Analyse ist, dann kann die Attraktivität nicht die Gültigkeit der Analyse ersetzen. Wir werden in der Soziologie immer komplexere Bilder bekommen und keine nett eingegrenzten Tabellen und Tafeln.
Schmälert die Komplexität die Gefahr, sich von der Politik vereinnahmen zu lassen?
Leider nein. Die Tatsache, dass Wissen aus einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, einer ethnischen Gruppe oder einer bestimmten Zeit kommt, ist kein Garant dafür, dass es demokratisch ist. Wissen von unten ist nicht per se demokratisches oder emanzipatorisches Wissen.
Denken Sie, es gibt einen Zusammenhang zwischen Identitätspolitik und Populismus?
Das Problem ist nicht die Vielfalt, sondern das Sich-Klammern an Privilegien, die man durch die Vielfalt bedroht sieht. In seiner Keynote hat der US-amerikanische Rassismusforscher Ibram X. Kendi bei „Dear White People“ betont, dass man sich nicht fragen sollte, was man verliert, wenn die Gesellschaft vielfältiger wird, sondern was man davon hat, wenn die Verantwortung auf mehreren Schultern verteilt ist.
In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und politischer Aktionismus zueinander?
Zumindest in keinem widersprüchlichen. Wir müssen uns bewusst sein, dass man sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler in Deutschland in einer machtvollen Position befindet. Natürlich vertreten wir auch politische Positionen. Je transparenter wir das machen, desto leichter ist es für Studierende, damit umzugehen. Für mich gehört politischer Aktivismus zur Wissenschaft dazu. Das musste ich auch lernen, mir wurde das anders vermittelt.