„Zeichnet, macht eine Skizze!“
Freiburg, 09.01.2020
An der Stefan-Meier-Straße, Ecke Unterführung zur Mathildenstraße, begleitet ein knallbuntes Graffito die Passantinnen und Passanten auf ihrem Weg durch Freiburg. Darauf zu sehen ist unter anderem ein Tintenfisch in einem verschmutzten Ozean. In einem seiner Tentakel schwenkt er eine Piratenfahne und in einem anderen eine Regenbogenfahne. Auch eine Miniaturansicht von Freiburg ist dort aufgemalt sowie das Konterfei von Christian Streich, Trainer des Fußball-Bundesligisten SC Freiburg, im Dialog mit Walter Eucken, einem Vordenker der sozialen Marktwirtschaft. Es stellt sich die Frage, was ein solches Wandgemälde mit Unternehmenskultur und Innovationen zu tun hat? „Jede Menge“, sagt Prof. Dr. Stephan Lengsfeld, dessen Studierende die Wand bemalt haben. Der Betriebswirtschaftler beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Lehrformen, die über die Vermittlung von Buchwissen hinausreichen.
Graffiti für die Betriebswirtschaft: Mit selbstgemalten Wandbildern erlangen Studierende Kompetenzen, die ihnen bei der Gründung von Start-ups helfen. Foto: Ingeborg F. Lehmann
„Haptik ist ein wichtiges Element. Sie ermöglicht nämlich buchstäbliches ‚Begreifen‘“, erklärt Stephan Lengsfeld, Professor für Finanzwesen, Controlling und Entrepreneurship an der Universität Freiburg. Auf dieser Erkenntnis basiert das Lern- und Lehrkonzept EconRealPlay, das Lengsfeld bereits 2013 entwickelte. Es macht wirtschaftliche Vorgehensweisen in spielerischen Simulationen mittels Legosteinen und anderer Materialien erfahrbar und wurde 2015 mit dem Lehrentwicklungspreis der Universität Freiburg ausgezeichnet. Die guten Erfahrungen, die er mit EconRealPlay sammelte, flossen in den Bereich Entrepreneurship Education ein, den Lengsfeld in den vergangenen drei Jahren aufgebaut hat. Dieser vermittelt Studierenden auf handlungsorientierte Weise Kompetenzen, die für kreative Prozesse in Unternehmen und die Initiierung von Start-ups und Innovationen notwendig sind.
Die Denkweise eines Menschen
„Die beste Geschäftsidee nützt nichts, wenn man sie nur beschreibt“, sagt Lengsfeld. „Man muss sie auch umsetzen, muss ins Handeln kommen.“ In einer klassischen Vorlesung erlernt man eher wenig reale Handlungskompetenz. In einem Seminar, bei dem die Studierenden gemeinsam ein Wandbild erstellen, ist das anders. „In der Psychologie gibt es den Begriff ‚mindset‘“, führt der Wirtschaftswissenschaftler die psychologischen Grundlagen seines methodischen Ansatzes aus. Mit „mindset“ ist die Denkweise, ja überhaupt die Lebenseinstellung eines Menschen gemeint. Günstig ist eine Lebenseinstellung, die an individuelle Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten glaubt, ein so genanntes „growth mindset“. Ein offener Geist sieht mehr als ein „geschlossener“, er ist flexibler, bewältigt Herausforderungen besser – „alles Dinge, die erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer oder alle, die neue Prozesse in einer Organisation anstoßen möchten, gut gebrauchen können“, so Lengsfeld. „Mit einer derartigen Einstellung erkennt man auch mehr wirtschaftliche Chancen.“
Einfluss der Street-Art
Ein offenes Mindset lässt sich trainieren. Durch fächerübergreifenden Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst etwa – eine Konfrontation, die Erfahrungsräume erweitert, Grenzen verschiebt, Perspektiven schafft. Dass in Lengsfelds Seminar die öffentliche Kunstform Street-Art die Rolle dieses Sparringspartners übernimmt, hat persönliche Gründe. „Ich mag Street-Art“, erzählt der Professor. „Auch wenn ich in anderen Städten unterwegs bin, achte ich immer darauf, wie sie im öffentlichen Raum wirkt und wie sie mich beeinflusst.“ Er recherchierte und kontaktierte schließlich den Künstler Pone, einen Sprayer, für sein Seminar. In den ersten Sitzungen gab Pone den Studierenden eine kleine Einführung in die Geschichte und Technik von Graffiti und Street-Art – inklusive einer Exkursion zu den Orten, an denen man legal Graffiti anbringen kann. Dazu zählt etwa die Unterführung an der Musikhochschule, die älteste so genannte „Hall of Fame“ in der Stadt.
Mehr als das Wissen aus Büchern: Studierende und Professor verschieben im Seminar ihre Grenzen. Foto: Ingeborg F. Lehmann
Grenzen verschieben
Anschließend begann die Konzeptphase. Die Studierenden wollten zunächst wie üblich anfangen zu schreiben, stattdessen hieß es: „Stopp, jetzt bitte mal keine Texte! Zeichnet, macht eine Skizze!“ Dass das nicht jeder und jedem gleich leichtfalle, sei der Punkt, so Lengsfeld: „Man verlässt seine Komfortzone, entdeckt neue Seiten an sich. Man verschiebt seine Grenzen. Und genau das ist auch die Grundlage für unternehmerische Ideen und Innovation.“ Auch der Seminarleiter selbst stellte in diesem Prozess seine Flexibilität unter Beweis. „So ein Seminar muss nicht notwendig dem einmal festgelegten Ablauf folgen. Auch ich muss bereit sein zu Anpassungen und sollte reagieren können.“ Nach den ersten Sitzungen wurde klar, dass sich für die Ideen der Studierenden eine Graffititechnik gut eignen würde, bei der mit Schablonen gearbeitet wird: die so genannte Stencil-Technik. Daher zog Lengsfeld noch einen zweiten Street-Artisten mit dem Künstlernamen TTF hinzu.
Stärken finden und einsetzen
Dann kam der spannende Moment: „Den Studierenden wird klar: Wenn sie jetzt nicht von sich aus aktiv werden, gibt es am Ende kein Ergebnis. Ich male die Wand nämlich nicht für sie an“, sagt Lengsfeld und schildert, was dann passiert: „Ein oder zwei Personen können vielleicht gut organisieren. Die besorgen Materialien, koordinieren Abläufe, geben sozusagen den Rahmen vor. Und andere, mit einer eher künstlerisch-kreativen Ader, beginnen ihn zu füllen. Andere entdecken ihre künstlerische Ader.“ Ganz allgemein habe sich jede und jeder gefragt: „Welche Stärken habe ich, und wie kann ich sie für das gemeinsame Ziel einsetzen?“ Bislang habe das immer hervorragend geklappt, so Lengsfeld: „Ich habe bei derartigen Projekten nie erlebt, dass eine Gruppe nicht ins Handeln gekommen ist, dass etwa nur zwei die ganze Arbeit machen und der Rest in Passivität verharrt.“
Parallelen zum Start-up
In dieser Dynamik lernen die Studierenden viel: über arbeitsteiliges Arbeiten für den gemeinsamen Erfolg, über die Grundlagen gelingender Gründerkultur und Innovationen. „Es kam zum Beispiel vor, dass einer eine Idee für ein Bildmotiv hatte. Das wurde dann gemeinsam diskutiert, weiterentwickelt – und tauchte in der Ursprungsform schließlich gar nicht an der Wand auf, hat aber anderen den Impuls gegeben für weiterführende Ideen, die dann realisiert wurden.“ Kein Grund zur Frustration, weiß Lengsfeld. „Das kann im Gegenteil auch sehr befriedigend sein, zu wissen, dass man mit seiner Idee den Anstoß gegeben hat, sofern es wechselseitig gewürdigt wird.“ Genauso laufe es ja bei erfolgreichen Start-ups: Man hat eine Idee für ein gutes Produkt, versucht, es auf den Markt zu bringen – und merkt bei ersten Tests, dass die Kundinnen und Kunden eigentlich etwas anderes brauchen. Erfolgreich ist, wer dann flexibel genug ist, sich von seiner Ursprungsidee zu lösen.
Gedanken zur sozialen Marktwirtschaft: Auch Fußballtrainer Christian Streich und Ökonom Walter Eucken wurden auf den Wänden verewigt. Foto: Ingeborg F. Lehmann
Schnittstelle zur Entwicklungspsychologie
Das Seminar vermittelt aber nicht nur Grundlagen gelingenden ökonomischen Handelns, es lehrt die Studierenden auch einiges über ihre eigene Persönlichkeit. „Es gibt da eine Schnittstelle zur Entwicklungspsychologie“, bestätigt Lengsfeld, „es geht mir durchaus auch um Persönlichkeitsbildung.“ Die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer haben deswegen nach Abschluss der Veranstaltung alle einen anonymisierten Fragebogen ausgefüllt, in dem es um die Erkenntnisse ging, die sie über sich selbst gewonnen haben: Was weiß ich nun über mich, mein Verhalten in der Gruppe, meine Stärken? Ein Studierender analysierte diese Ergebnisse dann in seiner Hausarbeit.
Forschungsmethoden des empirischen Arbeitens
„Letztendlich sind wir ja Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und bilden auch zum Forschen aus“, betont Lengsfeld. Die Studierenden kamen also ins Handeln, haben die damit verbundenen Prozesse gleichzeitig evaluiert und Methoden des empirischen Arbeitens erlernt. Zu Forschungszwecken wurden auch Passantinnen und Passanten befragt, die an der bemalten Wand an der Stefan-Meier-Straße vorbeilaufen: Wirkungsmessung im Sinne des Social Impact Measurements, und zwar einmal vor, einmal nach der Fertigstellung des Murals, wie man solche Wandbilder auch nennt. „Es ist ja ein Projekt im öffentlichen Raum“, sagt Lengsfeld, „und auch das finde ich wichtig: Dass wir als Universität ‚nach draußen‘ gehen, zeigen, was wir machen, dass wir in der Gesellschaft präsenter werden und stärker in den Dialog mit ihr gehen.“ Und es stimmt auch nicht, dass Lengsfeld seine Studierenden die ganze Arbeit hat alleine machen lassen: „Natürlich habe auch ich Stencils und Graffiti entworfen und an die Wand angebracht. Dass ich die Technik erlerne, hätte ich vorab auch nicht gedacht. Durch das Seminar habe auch ich meine Grenzen verschoben.“
Mathias Heybrock