Über das Medikament hinaus
Freiburg, 14.03.2023
Prof. Dr. Michael Müller setzt sich ein für eine Nachhaltige Pharmazie – und antwortet auf Fragen gerne mit Gegenfragen. Damit will er sein Gegenüber ermuntern, es nicht dabei zu belassen, nur Dinge zu erfragen und zu erfahren, sondern aktiv mitzudenken, die eigene Position zu reflektieren und den größeren Zusammenhang zu erkennen. So auch bei der Frage, was er mit dem Begriff „Nachhaltige Pharmazie“ meint. „Gegenfrage: Ist das groß- oder kleingeschrieben?“, entgegnet Müller. „Eine nachhaltige Pharmazie, kleingeschrieben, kann es nicht geben, weil der pharmazeutische Eingriff immer dem einzelnen Menschen dient“, erklärt der Professor für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Universität Freiburg. „Nachhaltige Pharmazie, großgeschrieben, beschreibt dagegen ein Prinzip. Es geht um eine ganzheitliche Betrachtung der Pharmazie – um die gleichzeitige Einbeziehung von pharmakologischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten in die Pharmazie und ihre Entwicklung, um möglichst vielen Menschen in den unterschiedlichsten Lebensrealitäten eine wirksame Behandlung von Krankheiten zu ermöglichen.“
Nicht das Medikament, sondern der Mensch soll im Zentrum stehen: In Freiburg beschäftigen sich Studierende mit der ganzheitlichen Betrachtung der Pharmazie. Foto: Adobe Stock/Qwenergy
Angesichts des in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft deutlich gewachsenen Interesses an Nachhaltigkeitsstrategien könnte man es für eine Selbstverständlichkeit halten, dass das Prinzip Nachhaltigkeit auch in der Pharmazie längst eine wichtige Rolle spielt. Doch die Debatte beschränkt sich hier bislang auf Fragen der „grünen“ Pharmazie wie Umweltschutz, Ökoeffizienz oder die ressourcenschonende Herstellung von Grundstoffen für Medikamente. „Grüne Pharmazie ist nicht gleichbedeutend mit Nachhaltiger Pharmazie“, sagt Müller, „manchmal ist sie sogar ihr Gegenteil“ – wenn etwa der Umweltaspekt Fragen der Verteilungsgerechtigkeit aus dem Blick rücke.
Gemeinwohlökonomie und Arzneimittelrückstände
Auf Anregung von Karina Witte, Diplom-Pharmazeutin und Doktorandin in Müllers Arbeitskreis Biokatalyse und Biosyntheseforschung, fand im Wintersemester 2020/2021 erstmals eine Spezialvorlesung zu diesem Thema statt. Neben Witte und Müller gehörte auch Petra Mußler zum Team, sie war für die Koordination und Evaluierung zuständig. Die Veranstaltungsreihe mit Seminarcharakter bot Freiburger Studierenden der Pharmazie und angrenzender Fächer erstmals die Gelegenheit, fächerübergreifend Aspekte der Nachhaltigkeit kennenzulernen und über sie zu diskutieren. Das Themenspektrum ist breit und reicht von der Gemeinwohlökonomie bis zur Arzneimitteltherapie, von den Auswirkungen der Klimakrise auf die Gesundheit bis zur Frage der Arzneimittelrückstände in Grund- und Trinkwasser. „Die Lösungen von gestern sind oft die Probleme von heute“, erklärt Witte. „Nachhaltige Pharmazie muss folglich immer ihre möglichen Wirkungen innerhalb und außerhalb des pharmazeutischen Bereichs berücksichtigen.“ Aufgabe der Universitäten sei es deshalb, die Studierenden dazu zu befähigen, sich in einer dynamischen Welt ein Bild von der jeweils aktuellen Situation in ihrer ganzen Komplexität zu machen, das allgemeine und das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen und auf dieser Grundlage aktiv Entscheidungen zu treffen.
Die Beschäftigung mit Fragen der Nachhaltigkeit in der Pharmazie hat in Freiburg eine längere Geschichte. 2008 führte der Umweltchemiker Prof. Dr. Klaus Kümmerer den Begriff der Nachhaltigen Pharmazie erstmals in den Freiburger Wissenschaftsdiskurs ein. Daraus entwickelte sich ein von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) gefördertes Forschungsnetzwerk, an dem Müller ebenso beteiligt war wie an einem weiteren, im Auftrag des Umweltbundesamts durchgeführten Projekt zu Fragen der Nachhaltigkeit im Alltag von Apotheken. Zeitgleich entstand aus dem engen Austausch zwischen Müller, dem Freiburger Moraltheologen Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff und dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Andreas Voßkuhle ein interdisziplinäres Ethik-Seminar. Entscheidende Impulse für das Modul „Ethik und Nachhaltigkeit“, das 2018 daraus hervorging, lieferte schließlich das Buch „Prinzip Nachhaltigkeit“, in dem der Münchner Theologe und Sozialethiker Prof. Dr. Markus Vogt einen gesellschaftlichen Wandel postulierte: „Die ethisch-politische Architektur der Moderne ist ins Wanken geraten. Eine klimaverträgliche Transformation des Fortschrittsbegriffs, ein globalisierungsfähiges Modell von Wohlstand und eine Integration von Markt und Moral sind wesentliche Bedingungen für eine gerechte Weltgesellschaft. Die Suche hiernach bündelt sich in dem Prinzip Nachhaltigkeit.“
Witte, die bei einem sechsmonatigen Forschungsaufenthalt im indischen Lucknow hautnah erlebte, welche enormen Folgen die soziale Ungleichheit und die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich auf das Gesundheitssystem haben, ist überzeugt davon, dass das Leitbild einer Nachhaltigen Pharmazie auch in die Lehre implementiert werden muss. Dazu gehört für die Forscherin nicht nur, bessere, ökologisch und sozial verträglichere Medikamente zu entwickeln und diese Kriterien schon im Vorfeld mitzudenken, sondern auch, gezielt Prävention, Gesundheitsbildung und Alternativen zur Arzneimitteltherapie zu fördern. „Im Zentrum der Pharmazie steht nicht das Medikament, sondern der Mensch“, sagt Witte. „Die Herausforderung ist, uns daran zu erinnern, dass die Pharmazie als Fachgebiet Teil einer Lösung für eine gesunde Bevölkerung ist.“ Und zwar nicht nur in Westeuropa, sondern überall auf der Welt.
Karina Witte, Michael Müller und Petra Mußler (v.l.n.r.) animieren Studierende, über Nachhaltige Pharmazie zu diskutieren.
Arbeitsintensive Vorlesung
So zwingend die Idee einer Spezialvorlesung über Nachhaltige Pharmazie erscheint, so schwer ist sie in den Lehralltag des Fachs zu integrieren. „Das Pharmaziestudium ist extrem durchstrukturiert. Anders wäre die enorme Menge an Lernstoff nicht zu bewältigen. Und die ist Voraussetzung für alles andere“, sagt Mußler. „Angesichts dieses engen Lehrplans wird die Kombination sozialer, ökologischer und ökonomischer Aspekte der Pharmazie zu wenig betrachtet.“ Dennoch war das Interesse der Studierenden an der Spezialvorlesung groß. Als Müller, Witte und Mußler die Veranstaltung ankündigten, rechneten sie mit 15 bis 20 Teilnehmenden. Am Ende meldeten sich über hundert an, 72 von ihnen blieben bis zum Schluss – trotz des erheblichen Aufwands, den das Pilotprojekt für sie bedeutete. Neben den einstündigen Sitzungen mit anschließender Diskussion gehörten dazu wöchentlich rund eineinhalb Stunden Vorbereitungszeit, während der sie sich in Literatur zu Themen wie Gesundheitsförderung oder Stoffkreislaufmanagement einlasen. Aufgrund der Corona-Pandemie fand die Vorlesung online statt. Die Teilnehmenden trafen sich digital zunächst in Kleingruppen zum Austausch, danach diskutierten sie in der Großgruppe Perspektiven des Gelernten.
„Lehrveranstaltungen in der Pharmazie finden in der Regel als Frontalvorlesung statt“, sagt Mußler. „Interaktive Online-Formate sind die Ausnahme.“ Ein Novum war ihre Idee, die Studierenden aufzufordern, sich in einer Art Steckbrief Gedanken über ihre Motivation und ihre Lernziele zu machen. Nach zwölf Veranstaltungen baten Mußler, Witte und Müller die Studierenden um ein Resümee. „Niemand hatte sein Lernziel erreicht“, sagt Mußler lachend, „dafür haben aber alle etwas Wichtigeres gelernt: dass es, wenn wir von Nachhaltigkeit reden, nie um die eine, klare Lösung geht, sondern darum, Pharmazie in einem größeren Zusammenhang zu sehen, die möglicherweise unbedachten Folgen unseres Handelns oder Forschens auch außerhalb des pharmazeutischen Feldes zu erkennen und sich klarzumachen, dass jeder mit für das verantwortlich ist, was in der Zukunft geschieht.“ Die Reaktionen der Studierenden waren ausgesprochen positiv.
Raum zur Reflexion
Heute freut sich Müller, dem Drängen von Witte nachgegeben zu haben. Mittlerweile bekomme das Team Anfragen von anderen Universitäten, sein Konzept der Spezialvorlesung vorzustellen. „Das Pharmaziestudium lässt nur wenig Raum zur Reflexion“, sagt er. „Unsere Vorlesung hat diesen Raum geschaffen.“ In mehrfacher Hinsicht. Denn auch das ist nachhaltig: dass die Studierenden jetzt für Fragen der Nachhaltigkeit sensibilisiert sind. Dass sie Zusammenhänge erkennen und Ansätze finden, um gestaltend in Prozesse der Pharmazie einzugreifen. Und dass sie die Diskussion darüber voranbringen und später in ihr Berufsleben tragen werden. Über eine Wiederholung der Spezialvorlesung denken Müller, Witte und Mußler deshalb schon jetzt nach – mit leicht entzerrtem Lehrplan, damit der Arbeitsaufwand für alle Teilnehmenden überschaubar bleibt. Und auch ein mögliches Fernziel hat das Team schon im Blick: „Denkbar wäre im Bachelor- und Masterstudiengang Pharmazeutische Wissenschaften die Entwicklung einer eigenen Profillinie ‚Sustainable Pharmacy‘“, sagt Müller. Denn so könne das Thema auch langfristig in die Lehre integriert werden.
Dietrich Roeschmann