Stumme und beredte Zeugnisse
Freiburg, 07.02.2018
Ein Schulterstück. Eine Rückenpartie. Ein halbes Bein. Wer jetzt an einen Schlachthof denkt, liegt falsch. Zu sehen sind diese Dinge in einem Seminarraum der Klinik für Dermatologie und Venerologie des Freiburger Universitätsklinikums.
Wie bei einer klinischen Visite: Studierende der Humanmedizin lernen anhand von Moulagen Fälle kennen, aus denen das Typische einer Krankheit abgeleitet wird. Foto: Jürgen Gocke
Hautarzt Dr. Martin Faber hat die Objekte behutsam aus einem Metallschrank genommen und auf einen Tisch gelegt. Es sind Moulagen – naturgetreue plastische Abformungen menschlicher Körperpartien aus Wachs oder Kunststoff –, die in der Vergangenheit bei der medizinischen Ausbildung eingesetzt wurden. Seit einigen Jahren finden sie nun wieder Verwendung in der Lehre. Dazu lässt Faber die Studierenden anhand ausgesuchter Moulagen die Merkmale von Hautkrankheiten beschreiben und differenzialdiagnostisch abgrenzen. Der Kurs, für den der Lehrbeauftragte Prof. Dr. Christoph Schempp verantwortlich ist, wurde 2017 mit dem Lehrpreis der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg für herausragende Didaktik im Studiengang Humanmedizin ausgezeichnet.
Seit nunmehr zehn Jahren bietet Faber im Blockpraktikum Dermatologie Moulagenkurse an. Bei den Studierenden stieß er damit von Anfang an auf Interesse, denn, wie er sagt: „Irgendwann will man auch wieder etwas Handgreifliches sehen. Es ist eben etwas ganz anderes, einen Gegenstand, eine Gliedmaße oder eine Körperpartie in Wachs plastisch vor sich zu sehen, als ein Foto zu betrachten.“ Vor einer Fotografie oder PowerPoint-Präsentation sitze man wie im Kinosessel. Zu einem dreidimensionalen Objekt baue man eine physische Beziehung auf – allein schon dadurch, dass man sich bewege. „Man lernt beispielsweise, dass auch die jeweils herrschenden Lichtverhältnisse, ob Tageslicht oder künstliche Lichtquelle, die Beobachtung prägen.“
Kleine Gruppen
„Als eher kontemplativ veranlagter Typ empfinde ich es als einen Quell der Freude, etwas in Ruhe studieren zu können. In der Verarbeitung visueller Eindrücke erschließt sich mir ein ganzer Kosmos.“ An Moulagen erkennt Martin Faber auch künstlerische Aspekte. Wichtig seien die Farben, die lebensechte Bemalung der Objekte. Und die Drapage um den Kopf eines Kindes in einer Moulage zu Masern weckt in ihm Erinnerungen an Heiligenbildnisse. Dass die Gegenstände signiert sind wie ein Gemälde, ist vielleicht kein Zufall.
Fabers Unterricht im scheinpflichtigen Praktikum findet in kleinen Gruppen statt. Zwei von 30 Semesterstunden sind ausschließlich für die Auseinandersetzung mit Moulagen vorgesehen. Die Lehrarbeit an Moulagen möchte er noch zwei Jahre fortführen und danach in den Ruhestand gehen. Bereits heute sind die Moulagen in das „fallbasierte Lernen“ der Oberärztinnen und Oberärzte integriert, sodass für Kontinuität dieser besonderen Unterrichtsform gesorgt ist. Faber ist dankbar dafür, dass das Universitätsklinikum die Ausgaben für die aufwendige Reinigung und Restaurierung der Moulagen nicht gescheut hat. Und er ist sich sicher, dass die Studierenden weiterhin den guten Sinn und Nutzen des Lernens an diesen gleichermaßen stummen und beredten Zeugnissen von Hauterkrankungen erkennen.
Anders als beim Unterricht am Krankenbett stehen mit Moulagen jederzeit Lehrbeispiele zur Verfügung, die didaktisch aufbereitet sind. Fotos: Jürgen Gocke
Hinzu kommt ein interaktives E-Learning-Programm, das die Fotos der Praktikums-Moulagen als Fallbeispiele nutzt und den Studierenden auf der Lernplattform ILIAS zur Verfügung steht. Das Programm zeigt und erläutert die Effloreszenzen, die kleinsten makroskopischen Einheiten bei dermatologischen Beschreibungen. Anschließend überprüfen die Studierenden in einem Quiz, ob sie diese besondere Fachterminologie an den Moulagen, die sie bereits vom Praktikum kennengelernt haben, nachvollziehen können. Das E-Learning mit Moulagen dient so der Wiederholung, Vertiefung und Kontrolle der Fertigkeiten, die im Moulagenkurs erstmals geübt wurden.
Lebensecht und hautnah
Die Verwendung von Moulagen in der Lehre wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend als veraltet erachtet. In Freiburg verschwanden die Stücke in den 1990er Jahren im Fundus; in anderen Städten hatte man sie schon früher aussortiert. Bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts war das morphologische Lehrmodell in der Dermatologie außer Mode geraten und mehr und mehr durch funktionelle Betrachtungsweisen, später zusätzlich durch das molekularbiologische Modell verdrängt worden. Der technische Fortschritt mit der Entwicklung von hochkarätiger Farbfotografie trug zusätzlich zum Niedergang der Moulagen bei. In Freiburg kam noch Platzmangel infolge der räumlichen Ausweitung der Allergieabteilung hinzu. Heute lagert ein Gutteil der 832 Moulagen, die sich im Besitz des Universitätsklinikums befinden, im Keller. Ausgesuchte Einzelstücke werden in dem bereits erwähnten Metallschrank verwahrt.
Die Renaissance der Moulage in der medizinischen Lehre setzte in Deutschland vereinzelt schon vor zwei Jahrzehnten ein. Die Gründe für diese zweite Karriere der meist betagten Objekte leuchten unmittelbar ein. Christoph Schempp schätzt Moulagen nicht nur als „lebensnahe und maßstabsgetreue Modelle von Hauterkrankungen mit hohem didaktischem Wert“. Er sieht ihren Nutzen unter anderem auch darin, dass mit ihrer Hilfe „auch seltene Erkrankungen lebensecht und hautnah gezeigt werden können“. Rechtfertigen die Vorteile die aufgewendeten finanziellen Mittel? „Auf jeden Fall“, so Schempp. „Die Haut ist in hohem Maße der genauen Beobachtung zugänglich. Der Stellenwert der Moulagen kommt direkt nach dem echter Patientinnen und Patienten. Das können Bücher und elektronische Medien nicht toppen.“
Seit zehn Jahren bietet Martin Faber im Blockpraktikum Dermatologie Moulagenkurse an. Bei den Studierenden stieß er damit von Anfang an auf Interesse. Foto: Jürgen Gocke
Wertvolles Kulturgut
Am Ausgangspunkt für die zweite Karriere der Moulage stand eine 1995 veröffentlichte Untersuchung von Prof. Dr. Thomas Schnalke, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin an der Berliner Charité, die heute als Standardwerk zur Geschichte der Moulagen gilt. Unter der Federführung der Charité bildete sich vor einigen Jahren die „Arbeitsgruppe Moulagen“. Ihr gehören mittlerweile zehn Hautkliniken an, in denen Moulagen wieder in der Lehre eingesetzt werden. Die hohe Zahl von 832 Moulagen in Freiburg erklärt sich daraus, dass Prof. Dr. Eduard Jacobi, der damalige Chef der Freiburger Klinik für Dermatologie, 1906 den ersten Atlas für Hautkrankheiten auf der Basis von Farbfotografien vorlegte. Die Belichtungszeiten für Farbfotos waren um 1900 noch so lang, dass sich von Patienten keine präzisen Bilder anfertigen ließen.
Für die Herstellung hochwertiger Farbreproduktionen im Hautatlas ließ er daher zahlreiche Moulagen anfertigen, die als unbewegliche Vorlage für Fotografien dienten. Viele sind von vorzüglicher Qualität – wohl nicht zuletzt deshalb, weil der erste Freiburger Moulageur ein akademisch ausgebildeter Kunstmaler war. Für Schempp sind die Objekte „ein wertvolles Kulturgut von hohem künstlerischem und didaktischem Wert“. Und er weiß die Arbeit von Martin Faber zu schätzen: „Mit großer Hingabe hat sich Martin Faber um den Freiburger Moulagenbestand verdient gemacht. Es ist im Wesentlichen seiner Initiative zu verdanken, dass unsere Moulagensammlung in neuem Glanz erstrahlt. So haben unsere Moulagen den Einzug in die praktische Lehre und ins E-Learning geschafft.“
Hans-Dieter Fronz