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„Na, haben Sie sich schon ein Träumchen ausgesucht?“

An Kunststoffpatienten üben angehende Anästhesiologen und Chirurgen für den Ernstfall

Freiburg, 11.04.2019

Gallenblase entfernen, Leistenbruch operieren, Meniskusriss behandeln: Seit Oktober 2018 haben angehende Medizinerinnen und Mediziner der Universität Freiburg die Möglichkeit, in einem mit moderner Technik ausgestatteten Simulationszentrum für den späteren beruflichen Alltag zu trainieren. Denn gerade im OP gilt: Wer gut vorbereitet ist, bewahrt einen kühlen Kopf.


Im Simulationszentrum wenden Medizinstudierende ihr theoretisch erworbenes Wissen unter realistischen Bedingungen an, wie in der Anästhesie das Einleiten der Narkose. Foto: Harald Neumann

Anästhesist Fabian Drewitz hat ein Problem: Die Beatmungsmaske sitzt nicht dicht auf Mund und Nase seines Patienten, er muss kräftig drücken, damit der Mann genügend Sauerstoff bekommt. Drewitz soll für eine Leistenbruchoperation eine Narkose einleiten. Ein Routineeingriff; das chirurgische Team wartet schon. „Sind die Kurven denn okay?“, fragt er. „Blutdruck ist okay, Atemminutenvolumen etwas niedrig“, antwortet Medizinstudentin Alina Domdey, die neben ihm steht und auf den Monitor schaut. Pfleger Gabriel Christmann hält das Narkosemittel bereit: „Ein Milligramm pro Kilo Körpergewicht – stimmt das?“

Fabian Drewitz ist in Wirklichkeit kein Anästhesist, und Gabriel Christmann ist kein Pfleger. Nur Alina Domdey spielt in dieser Szene sich selbst. Alle drei sind Medizinstudierende im letzten Jahr, auch Praktisches Jahr (PJ) genannt. Sie üben an diesem Vormittag in einer neuen Einrichtung des Freiburger Universitätsklinikums, dem „Freiburger Anästhesiologie- und Chirurgie-Trainings- und Simulationszentrum für Studierende“, kurz FACTS-S. In vier Übungsräumen sind Operations- und Stationszimmer nachgebaut, inklusive der nötigen Technik. Knapp 1,2 Millionen Euro haben Land, Universitätsklinikum und die Universität Freiburg investiert. Auch Studierende aus der Chirurgie üben hier, etwa minimalinvasive Eingriffe wie Kniespiegelungen oder das Entfernen von Gallenblasen.


Per Computer steuert Jonathan Appelt das Verhalten und die Vitalfunktionen des Kunststoffpatienten. Foto: Harald Neumann

Konkrete Erfahrung, nachhaltiger Lerneffekt

„In der Anästhesie können Studierende nicht so viel selbst machen, denn eine echte Narkose macht immer eine approbierte Ärztin oder ein approbierter Arzt“, sagt Dr. Axel Schmutz, Oberarzt und in der Anästhesie des Klinikums für die Lehre zuständig. „Außerdem weiß man nicht, wann eine Patientin oder ein Patient ein relevantes Problem, wie zum Beispiel einen Kreislaufstillstand, bekommt. Ich möchte aber, dass Studierende das praktische Vorgehen bei bestimmten klinischen Konstellationen gezielt lernen können.“ Das gehe am besten in einer realistischen Umgebung – deshalb sei ein Simulationszentrum, in dem man Szenen realitätsnah nachstellen könne, so wichtig: „Von konkreten Erfahrungen bleibt am meisten hängen. Damit schaffen wir für die Studierenden eine gute Brücke von der Theorie in die Praxis.“

In einem der „Operationsräume“ liegt heute Peter Schmidt auf dem OP-Tisch, der Patient mit dem Leistenbruch. Herr Schmidt ist aus Kunststoff, in ihm steckt jede Menge Technik: Die Studierenden können ihn zum Beispiel mit einer Maske beatmen, einen Beatmungsschlauch einführen und ihm über einen Zugang im Arm Medikamente verabreichen; ein Monitor zeigt wichtige Werte wie Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung an. Auch sprechen kann Herr Schmidt: Seine Stimme kommt von Jonathan Appelt, er ist Weiterbildungsassistent und sitzt hinter einer verspiegelten Scheibe in einer Art Regieraum.

Feedback von den Kommilitonen

Von dort aus steuert er per Computer Verhalten und Vitalfunktionen des Kunststoffpatienten. Als das Dreierteam zu Beginn der Szene den Raum betritt, lässt er Herrn Schmidt sagen: „Ich bin sehr nervös.“ Einen Moment lang sind die Studierenden unsicher, doch dann nehmen sie ihre Rollen an und stellen sich nacheinander dem Patienten vor. Als Arzt fragt Fabian Drewitz ihn zur Sicherheit nach Namen und Geburtsdatum, dann erklärt er kurz, was das Team tun wird, und versucht, mit lockeren Sprüchen die Nervosität des Patienten zu mildern: „Na, haben Sie sich schon ein Träumchen ausgesucht?“


Wer nicht dran ist, schaut vom Nebenraum aus zu: Auf einer Leinwand ist die Szene aus drei verschiedenen Kamerapositionen zu sehen. Foto: Harald Neumann

In einem Nebenraum sitzen währenddessen die übrigen sechs Studierenden des Kurses. Auf einer Leinwand sehen sie die Szene aus drei verschiedenen Kamerapositionen, hören die Stimmen der Beteiligten. Auch die Vitalwerte des Patienten werden ihnen angezeigt. Sie beobachten, wie ihre Kollegin und ihre Kollegen Herrn Schmidt trotz seiner Nervosität und der schlecht sitzenden Maske in eine ordentliche Narkose bringen. Als die drei nach etwa 20 Minuten wieder zu den anderen in den Raum kommen, gibt es erst mal Lob von einer Mitstudentin: „Glückwunsch – dafür, dass man eigentlich völlig überfordert ist mit der Situation und den Geräten, wart ihr sehr zugewandt.“

Wer gut vorbereitet ist, bleibt ruhig

Fürs erste Mal gar nicht schlecht, findet auch Dr. Anu Huotari. Die Fachärztin leitet an diesem Tag gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Axel Semmelmann das Training. Gemeinsam gehen alle die Narkose noch einmal durch, schauen sich einzelne aufgezeichnete Szenen an. „Versucht, euch vor Beginn als Team einmal die Situation als Ganzes vorzustellen: Was ist das für ein Patient, was genau wollen wir tun, welche Risiken gibt es?“, sagt Huotari. „Es verschafft euch Ruhe, wenn ihr gut vorbereitet seid“, ergänzt Semmelmann, „das ist auch psychisch wichtig.“


Auf dem OP-Tisch liegt Peter Schmidt: An dem mit moderner Technik ausgestatten Patienten lassen sich medizinische Handgriffe risikofrei trainieren. Foto: Harald Neumann

Die beiden Fachärzte sind bei allen Übungsszenen dabei, sind ansprechbar, wenn etwas technisch nicht funktioniert – halten sich sonst aber raus: Die Studierenden müssen selbst Verantwortung übernehmen. Anschließend besprechen sie alle Szenarien, an diesem Morgen zum Beispiel einen allergischen Schock mit Herz-Kreislauf- und Atemstillstand während einer Operation sowie den Defekt eines Beatmungsgeräts. Ein Thema, das beide immer wieder ansprechen, ist die Kommunikation, gerade in Stresssituationen: „Sprecht klar, sprecht deutlich, es ist ganz wichtig, dass das ganze Team dieselben Informationen hat“, schärft Huotari den Studierenden ein.

Das Dreierteam um den Patienten Peter Schmidt ist am Ende ganz zufrieden. „Das war echt ein Sprung von der Klippe ins kalte Wasser“, meint Fabian Drewitz. „Das ist heute ja erst unser dritter Tag in der Anästhesie.“ Und Kollegin Alina Domdey sagt: „Gut ist, dass man in der konkreten Situation die ganze Zeit überlegt, was man jetzt tun kann – und gleich die Reaktion sieht: Ich gebe Adrenalin, und der Patient kollabiert nicht.“

Thomas Goebel