Mit Gehbehinderung ins Gelände
Freiburg, 04.09.2020
Wer Biologie studieren will, muss viel raus in die Natur: auf den Berg, über abschüssige Kieswege oder durchs Dickicht eines Walds. Exkursionen, bei denen Studierende zum Beispiel selbst Pflanzen bestimmen, gehören zu den Leistungsnachweisen des Studiums. Doch was ist, wenn jemand im Rollstuhl sitzt oder auf Krücken angewiesen ist? Ein Team aus der Freiburger Geobotanik hat eine barrierefreie Tour entwickelt, die bereits mit einem Preis ausgezeichnet wurde.
Seit einer missglückten Operation ist Anna Stölting auf eine Beinschiene angewiesen. Durch ihre Mobilitätseinschränkung kam das Team der Geobotanik auf die Idee, eine passende Exkursion zu erarbeiten. Foto: Ingeborg F. Lehmann
Anna Stölting betastet die Rinde des Baumes und schaut sich die Blätter genau an. Wie stehen die zueinander? Früchte sieht sie auf den ersten Blick keine, aber Efeu, der sich am Fuße des Stammes nach oben rankt. „Ganz klar eine Buche“, sagt Stölting und lacht. Denn solche Bestimmungsaktionen wie die hier im Botanischen Garten Freiburg hat die Studentin längst hinter sich gelassen, sie hat ihren Bachelor in Biologie in der Tasche und macht jetzt ihren Master in Neurobiologie.
Dass das möglich ist, hat sie auch der Offenheit und Experimentierfreude der Fakultät für Biologie der Universität Freiburg zu verdanken. Stölting ist nach einer missglückten Operation vor vier Jahren auf eine Schiene an ihrem linken Bein angewiesen und dadurch in ihrer Mobilität eingeschränkt. Damals studierte sie an einer anderen Universität Geowissenschaften, sie wollte Vulkanologin werden. „Die Uni meinte, dass das mit meinem kranken Bein schwierig werden würde“, erinnert sich Stölting, „ich könnte ja nicht an Exkursionen teilnehmen, die für den Bachelor nötig wären.“ Sie suchte nach einer Alternative und fand sie im Biologiestudium in Freiburg: „Hier wurde ich mit offenen Armen empfangen.“
„Eine kleine Erleuchtung“
Die erste Reaktion auf Stöltings Anfrage nach behindertengerechten Exkursionen war ein klares Ja. „Warum solle denn jemand mit einer Mobilitätseinschränkung nicht hier studieren können, haben wir uns gefragt“, erinnert sich Alexandra Böminghaus, Technische Assistentin am Institut für Biologie II, Abteilung für Geobotanik. Doch der Teufel steckt im Detail: Je mehr das Team über die Umsetzung nachdachte, „desto mehr kamen wir ins Grübeln und waren ziemlich überrascht, was eigentlich alles nicht geht.“ Ein unebenes Gelände, auf dem sich kein Rollstuhl bewegen kann; ein Gitter im Boden, über das man nur schwer mit einer Krücke kommt; ein leicht abschüssiger Kiesweg, auf dem jemand mit unsicherem Schritt schnell ausrutschen könnte. Exkursionen zu unternehmen, das bedeutet längeres Gehen in manchmal schwierigem Gelände, die Flora ist nicht immer leicht erreichbar. Mobilität ist die Grundvoraussetzung. Alle, die ihr Biologiestudium abschließen möchten, müssen einige solcher Exkursionen als Leistung erbringen.
„Für uns war die Anfrage von Anna Stölting eine kleine Erleuchtung, wir haben gemerkt, dass wir gewaltigen Handlungsbedarf haben, wenn wir barrierefreie Exkursionen anbieten möchten“, sagt Böminghaus. Dass man dieses Angebot schaffen wollte, war sofort klar. „Sonst berauben wir uns womöglich, ohne es zu wollen, guter Leute, die zu tollen Forschenden und Lehrenden werden.“ Genauso klar war auch, dass es keine Alternative sein konnte, dass Studierende mit körperlichen Beeinträchtigungen nur vorm Monitor sitzen und Pflanzen per Fotos und Videos bestimmen. Sie sollten genauso rausgehen und Biotope erkunden wie alle anderen auch.
Neue Tour, aber kein komplettes Neuland: Alexandra Böminghaus (links) hat von ihren Erfahrungen profitiert, die sie bei der Umsetzung von GPS-gestützten Einzelexkursionen gesammelt hat. Foto: Ingeborg F. Lehmann
Die passenden Lernorte heraussuchen
Ein entscheidender Tipp, wie das funktionieren könne, kam von Beate Massell, der Beauftragten für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung. Sie empfahl dem Team, unterschiedliche Module zu erarbeiten, sodass jede und jeder sich Lernorte raussuchen könne, die zu den individuellen Möglichkeiten passten. Die Studierendenvertretung der Universität Freiburg finanzierte die Entwicklung eines entsprechenden Konzeptes über das Studierendenvorschlagsbudget.
Dann ging es an die Arbeit: Mit verschiedenen Stellen an der Uni klärte das Team die Modalitäten für den Leistungskatalog ab, Anna Stölting gab Tipps, worauf man bei neuen Lernorten achten müsse. Kann man diesen Weg auch mit einem Rollstuhl befahren? Ist die Steigung zu steil? Gibt es die Möglichkeit, sich mal auf einer Bank auszuruhen? Sind öffentliche Toiletten in der Nähe? Das Ziel war dabei immer, den Studierenden möglichst typische, also lehrbuchmäßige Habitate zeigen zu können. „Manchmal muss man sich von so einer Idee aber auch verabschieden“, sagt Stölting. Zum Beispiel, wenn ein Biotop am Feldberg nur über einen kleinen felsigen Pfad erreichbar ist.
„Aus insgesamt 14 verschiedenen Lernmodulen können die Studierenden nun frei auswählen, einige Module sind verpflichtend“, erklärt Alexandra Böminghaus. Den Einzelmodulen ist je eine bestimmte Punktezahl zugeordnet, am Ende muss eine Mindestzahl an Punkten erreicht werden. Die meisten Module sind für Exkursionen. Das bedeutet, dass dabei eine Lokalität in der Stadt oder ihrem näheren Umkreis mit öffentlichen Verkehrsmitteln angefahren wird. Ebener Untergrund und gute Befahrbarkeit mit dem Rollstuhl sind bei allen gegeben, oft ist auch eine Toilette in der Nähe. Mithilfe eines GPS-Geräts suchen die Studierenden die vorgegebenen Koordinaten und lösen mithilfe eines Skripts Aufgaben, klassische Bestimmungsaufgaben zum Beispiel. „Profitiert haben wir dabei von unseren Erfahrungen bei der Umsetzung von GPS-gestützten Einzelexkursionen, welche wir als Geo-Caching-Tour anbieten, falls Studierende bei einer normalen Gruppenexkursion mal nicht teilnehmen können“, fügt Böminghaus an. Und auch für den Feldberg haben die Freiburger Geobotaniker eine Lösung gefunden: Der Lernort kommt als „Handreichung“ daher, in der zum Beispiel typische Pflanzenarten eines Hochmoores in Form eines Herbariums versammelt sind.
Eine Runde um den Flückiger See
„Ich habe dank des neuen Modells meinen Bachelor abschließen können, und das in der Regelstudienzeit“, sagt Anna Stölting, „und ich habe gemerkt, dass ich viel mehr kann, als ich dachte, dass ich mit meiner Beinschiene nicht nur daheim hocken muss.“ Die Studentin war von den neuen Möglichkeiten so motiviert, dass sie sogar eine eigene Exkursion für mobilitätseingeschränkte Menschen gestaltet hat: eine Runde um den Flückiger See im Freiburger Westen.
Alexandra Böminghaus möchte das neue Modell gerne noch weiterentwickeln. „Gerade im Bereich der Digitalisierung gibt es Möglichkeiten, die wir noch nicht nutzen: Tonaufnahmen bestimmter Lebensräume zum Beispiel, Lehrvideos oder auch eine App, mit der die Studierenden vor Ort Aufgaben bekommen und die Lösungen direkt eintragen, kann ich mir gut vorstellen“, sagt Böminghaus. Das Projekt „Barrierefreie Exkursionen“ wurde bereits mit dem „Innovationspreis Lehre“ der Universität Freiburg ausgezeichnet. „Das Schönste daran ist aber“, sagt Alexandra Böminghaus, „dass auch wir viele Dinge neu gedacht und Barrieren überwunden haben: in unseren Köpfen“.
Claudia Füßler